Das Gesetz des Dschungels und ein geschickt platziertes Exit-Schild bei "Jungle Book".

Foto: Lucie Jansch

Der Wald, das Geheimnis um den See der verzauberten Schwäne, der Dschungel und seine sprechenden Tiere, die den kleinen Mogli auf- und erziehen – "Jag, um den Hunger zu stillen und nicht um des Vergnügens willen!" –, ein Don Juan mit Tiergestalten: im Festspielhaus St. Pölten halten Variationen rund um das Animalische als Ballett und Musical Einkehr.

Selbst für jene, die der Reminder der US-amerikanischen Parade-Intellektuellen Donna Haraway, der Mensch sei bitteschön mit den anderen Lebensformen auf dieser Erde verwandt, noch nicht erreicht hat, ist es keine Peinlichkeit mehr: Auch Mensch ist Tier. Ersterer kann sich geehrt davon fühlen, Teil eines so vielfältigen Lebens sein zu dürfen, wie es auf der Erde existiert.

Wer sich für den wunderbaren Mythen-, Märchen- und Legendenschatz der Weltkulturen interessiert, stößt immer wieder auf Mensch-Tier-Vermischungen: ob bei indischen Göttern oder japanischen Dämonen und chinesischen Symbolen bis hin zu den Religionen der alten Ägypter, Griechen und Azteken zeigt sich, dass Tiere den Menschen von jeher sehr viel bedeutet haben.

Komm in den Dschungel

Wenn nun bekannt wird – ganz aktuell durch den Living Planet Report 2020 des World Wildlife Fund und der Zoologischen Gesellschaft London –, dass der Tierbestand auf unserem Planeten von 1970 bis 2016 um zwei Drittel geschrumpft ist, verstehen wir: Da steht ein Signal auf Rot. Diese Nachricht betrifft die gesamte Menschenfamilie der Zukunft, die ja nicht eines Tages Rudyard Kiplings Dschungelbuch als trauriges "in memoriam" für Balu, Schir Khan, Baghira oder Hathi lesen müssen soll.

Wenn nun das Festspielhaus St. Pölten seine neue Saison mit dem Musical Jungle Book nach Kiplings Welterfolg von 1894 von Haraways Landsmann, dem großen Robert Wilson, eröffnet, steht über diesem kein extra "Tierschutz"-Alarmzeichen. Muss auch nicht sein. Denn diese Zeichen kann man heute ohne Mühe selbst erkennen.

Auch beim Don Juan des Choreografen Johan Inger für die Ballettcompany Aterballetto aus der italienischen Stadt Reggio Emilia haben die Masken von Katz und Fuchs metaphorische und nicht anklagende Bedeutung (eigentlich geht es in dem Stück vor allem um Don Juans Mutter). Und die gefiederten Figuren aus der Schwanensee-Interpretation des Franzosen Angelin Prejocaj tragen keine WWF-Sticker, sondern an den Folgen sinistrer Machenschaften des Zauberers Rotbart.

Ein Vergleich des Rotbart mit dem Don Juan bringt eine archetypische Zuspitzung hervor: destruktive Machtgier und rücksichtsloser Hedonismus sind die Triebfedern der Zerstörung der menschlichen Lebensbasis. Weil Niedergeschlagenheit nicht gegen die Entgleisungen der menschlichen Spezies hilft, ist es genau richtig, sich in schwierigen Zeiten mit Mut, kritischem Geist und Zuversicht aufzuladen.

Exzellente Choreografen

Robert Wilson, der übrigens im kommenden Jahr seinen achtzigsten Geburtstag feiert, hat sich – wieder – mit der Popmusik-Zweischaft CocoRosie zusammengetan. Diesmal, um mit gewohnt bildintensiver Jungle Book-Poesie die Lebensgeister zu wecken. Die beiden CocoRosies Sierra und Bianca Casady zeichnen auch für die Liedtexte verantwortlich.

Der französische Starchoreograf Angelin Preljocaj (63) ist dem österreichischen Publikum durch seine Gastspiele in Wien und St. Pölten (hier: Snow White, Les Nuits und Roméo et Juliette) ein Begriff und wie Wilson ein Liebhaber von starken Bild- und Bühnendesigns. Auch Johan Inger (53) ist wiederholt in Österreich aufgetreten, im Festspielhaus St. Pölten etwa 2017 mit der Compañía Nacional de Danza de España als Choreograf von Carmen.

Inger, geboren 1967, reüssierte als Choreograf beim Nederlands Dans Theater und leitete zwischen 2003 und 2008 das schwedische Cullberg-Ballett. Seit einigen Jahren arbeitet er als freier Choreograf. (Helmut Ploebst, 25.9.2020)