Fordert in seinem Buch Protest ein – und zwar friedlichen: Vitali Alekseenok in seiner Heimat Belarus.

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Vitali Alekseenok ist Dirigent und musikalischer Leiter des Sinfonieorchesters Abaco der Universität München. Zu den Wahlen im August 2020 flog er nach Minsk, um seine Stimme abzugeben, und beteiligte sich an den Protesten, als Lukaschenko den Wahlsieg für sich beanspruchte. In seinem Buch Die weißen Tage von Minsk. Unser Traum von einem freien Belarus (S. Fischer, 2021) schildert er die Welle der Solidarität, die das Land erfasste, aber auch die brutale Antwort des Regimes, und er verleiht seiner Überzeugung Ausdruck, dass Belarus auf seinem Weg in die Demokratie nicht aufzuhalten ist.

STANDARD: In Belarus hat eine beeindruckende Revolution begonnen: friedlich, weiblich und mit vielen Künstlern, die ihr ein buntes, lebensfrohes Gesicht geben. Woher kommt diese Kraft?

Alekseenok: Das überraschte uns selbst. Wir haben eine solche Kraft nicht erwartet. Sie ist über lange Zeit gewachsen. Im März 2020 zeigte uns die Pandemie, dass wir selbst etwas unternehmen müssen, um uns zu schützen. Denn die Regierung tat nichts, Lukaschenko beschimpfte die ersten Verstorbenen sogar. Aus Not fanden Belarussen die Kraft und erlebten, welche Solidarität sie aufbringen können. Das inspirierte uns gegenseitig, so wuchs die gemeinsame Kraft.

STANDARD: In Ihrem Buch "Die weißen Tage von Minsk" fordern Sie, dass die Belarussen versuchen müssten, ihre Identität und ihre Sprache zu bewahren und zu stärken. Geht es dabei um eine Abgrenzung vom Regime Lukaschenkos oder von Russland?

Alekseenok: Wir wollen zeigen, dass Belarus ein eigenständiges Land ist. Die Geschichte der belarussischen Identität ist komplex, und oft konnten die Belarussen selbst nicht sagen, wer sie sind. Im Ausland fällt mir auf, dass man nichts von Belarus weiß, sondern das Land als einen Teil Russlands wahrnimmt. Das bewog mich, herauszustellen, dass wir eine eigene Kultur und Identität besitzen. So benutze ich seit einigen Jahren bewusst die belarussische Sprache, wenn ich mich im Lande aufhalte. Seit dem Sommer 2020 hat die Sprache an Bedeutung gewonnen, und es wächst der Glaube, dass wir zu einer Nation werden. Die Unabhängigkeit vom Regime ist ein schwierigeres Thema. Ich habe Belarus seinerzeit verlassen, weil ich keinen Weg sah, in der Diktatur frei zu leben.

STANDARD: Belarus ist erst seit 1991 ein eigener Staat. Davor war es Teil der Sowjetunion. Sehen Sie in der Geschichte des Landes Anknüpfungspunkte an ein freies demokratisches Staatswesen?

Alekseenok: Ja, die gibt es. Am 25. März 1918 wurde die belarussische Volksrepublik ausgerufen. Belarus befand sich damals in ähnlichen Grenzen wie heute. Der Staat überlebte nur wenige Monate. Nicht alle Belarussen identifizierten sich mit ihm. Dennoch war es ein wichtiger Versuch. Davor war Belarus tatsächlich nur ein Teil Russlands oder Polens. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es dauernd zu Kriegen zwischen Polen und Russland, und Belarus stand dazwischen. Dann folgten die Weltkriege, die in Belarus enorme Zerstörungen anrichteten. Versuche, von Russland unabhängig zu werden, gab es bereits 1863. Die Proteste damals wurden brutal niedergeschlagen, und es folgte eine Welle heftiger Unterdrückung belarussischer Kultur.

STANDARD: Fürchten Sie, dass Russland auch diesmal eingreift und Lukaschenko unterstützt?

Alekseenok: Das geschieht bereits. Putin ist der einzige der großen Politiker, der Lukaschenko offen unterstützt. Viele Belarussen sind überzeugt, dass Lukaschenko ohne diese Unterstützung Putins seine Macht längst hätte abgeben müssen. Putin unterstützt ihn natürlich auch deshalb, weil er in Russland Ähnliches befürchtet. Sein Umgang mit Alexej Nawalny hat diese Angst deutlich gezeigt.

STANDARD: Mehrfach betonen Sie, dass die Geschehnisse in Belarus sich auf dem europäischen Kontinent abspielen. Schwingt da Enttäuschung mit? Erwarten Sie Unterstützung von der EU?

Alekseenok: Meine Meinung dazu ist gespalten. Einerseits wünsche ich mir schon, dass die Europäische Union aktiver eingreift. Sie agiert meiner Ansicht nach viel zu oft nur auf der Ebene von Gesprächen. Damit aber kann man einen Diktator kaum zu Veränderungen bewegen. Was Lukaschenko versteht, ist nur die Sprache der Macht. Andererseits war es eine wichtige Geste, dass die Europäische Union die Wahlen und Lukaschenkos Regierung nicht anerkannte und für illegitim erklärte. Das Wissen, dass die Europäische Union und die freie Welt hinter ihnen stehen, stärkt die Belarussen in ihrem Durchhaltevermögen. Darum dürfen sie nicht aufgeben.

Der Prozess der Veränderung lässt sich nicht aufhalten. Davon bin ich überzeugt. Die Proteste werden weitergehen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Unterstützung im Land? Ist es eine Revolution der Künstler, oder wird sie von allen Bevölkerungsschichten getragen?

Alekseenok: Als Swjatlana Zichanouskaja und zwei weitere Oppositionelle im Juli 2020 zu Demonstrationen aufriefen, gingen selbst in den kleinsten Städten Belarussen zu Tausenden auf die Straßen. Sogar in dem Städtchen Wilejka, in dem ich geboren wurde, fanden Demonstrationen mit über 1000 Belarussen statt. Das ist ein neues Phänomen. Im Herbst und Winter schlug das Regime die Proteste brutal nieder. Über Messengerdienste im Internet aber wurde der Gedankenaustausch fortgesetzt. Mittlerweile sind auch viele Belarussen, die solche Dienste betreiben, im Gefängnis. Dennoch geht der Chataustausch weiter.

STANDARD: Nun befinden sich Swjatlana Zichanouskaja und Veranika Tsapkala im Ausland, und Maryja Kalesnikawa ist im Gefängnis. Wer koordiniert im Lande die oppositionellen Kräfte?

Vitali Alekseenok, "Die weißen Tage von Minsk. Unser Traum von einem freien Belarus". € 18,50 / 192 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2021
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Alekseenok: Ich könnte keine Namen nennen, die Repressionen sind gegenwärtig so stark, dass auch keine genannt werden sollten. Zichanouskaja ist die legitime Vertreterin der Opposition, weil sie Schätzungen zufolge die gewählte Präsidentin von Belarus ist. Über das Internet kann sie aus dem Ausland agieren. Als sie neulich über einen Vorschlag abstimmen ließ, beteiligten sich innerhalb weniger Tage 700.000 Belarussen daran. Der Oppositionelle Pawel Latuschka betätigt sich ebenfalls erfolgreich aus dem Ausland.

STANDARD: Sie schließen Ihr Buch mit dem hoffnungsvollen Satz: "Die Transformation unserer Gesellschaft kann vielleicht verlangsamt, aber sie kann nicht verhindert werden." Gilt das immer noch?

Alekseenok: Die gegenwärtigen Gewaltakte des Regimes sind enorm. Man kann sie immer mehr mit den 1930er-Jahren unter Stalin vergleichen. Aber wir vergessen nicht, was geschehen ist, auch wenn unser Protest im Moment ziemlich still aussieht. Hunderttausende Belarussen sind gegen das Regime. Der Prozess der Veränderung lässt sich nicht aufhalten. Davon bin ich überzeugt. Unsere Proteste werden weitergehen und Belarus die Freiheit bringen. (Ruth Renée Reif, ALBUM, 8.5.2021)