Es gibt für alles eine Erklärung: Ein Mitarbeiter von Sebastian Kurz ließ nach dem Erscheinen des Ibiza-Videos vielleicht deshalb unter falschem Namen Festplatten schreddern, weil er Angst hatte, durch Angabe seines Namens und Arbeitgebers zu verraten, dass sich Türkis auf eine Abwahl von Kanzler Kurz vorbereitet.

Die Ehefrau von Finanzminister Gernot Blümel nahm den gemeinsam benutzten Laptop beim Spaziergang mit ihrem Kleinkind während der Razzia womöglich deshalb mit, weil sie in einer ruhigen Minute arbeiten wollte. Kurz rief jedes Mal, wenn Ermittlungsschritte gegen Ex-Finanzminister Hartwig Löger vorbereitet wurden, vielleicht wirklich bei ihm an, um über die Sondierungsgespräche und dessen Zukunft als Minister zu sprechen.

All das ist möglich, und jede und jeder sollte sich vor Augen halten, dass die Essenz der strafrechtlichen Unschuldsvermutung darin besteht, diese Erklärungen ernst zu nehmen.

Allerdings haben sich die angeblichen Zufälle, Merkwürdigkeiten und Widersprüche so summiert, dass es für die ÖVP langsam wirklich gefährlich wird. Dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft dem Kanzler kriminelle Energie zutraut, ist seit seinem Status als der Falschaussage Beschuldigter sogar offiziell. Aber schon vorher war aus den Ermittlungsakten herauszulesen, dass die WKStA die gesamte Führungsspitze der neuen ÖVP für zumindest untersuchenswürdig hält.

Die ÖVP ist in einem Strudel, aus dem sie nur noch schwer herauskommen wird.
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Oberste Priorität: Macht

Die ÖVP ist in diese Situation nicht hineingestolpert. Man kommt nicht umhin, Kanzler Kurz und seinen Vertrauten als oberste Priorität das Erlangen von möglichst viel Macht zu attestieren. Mit welchen sachpolitischen Zielen dieses Streben zusammenhängt, lässt sich auch nach knapp drei Jahren Kurz’scher Kanzlerschaft noch immer schwer sagen. Sachpolitische Entscheidungen werden gefällt, wenn sie den Umfragewerten zuträglich sind.

Wer so auf sein Image und seine Macht bedacht ist, tut auch sehr viel, um seinen Status zu erhalten und auszubauen. Dieser Zugang eint die vielen Beschuldigten, er ist wohl systemisch. Man traut dem Kanzler zu, vor dem U-Ausschuss eine Falschaussage riskiert zu haben, nur um sein Image zu wahren, auch wenn er strafrechtlich nichts zu vertuschen hatte. Auch Thomas Schmid nahm viel in Kauf, um sich an die Macht zu klammern. Er hätte seinen fragwürdigen Aufstieg zum Öbag-Chef als Fehler eingestehen und sich zurückziehen können – dann wäre ihm die Veröffentlichung vieler peinlicher Chats erspart geblieben.

Jetzt ist die ÖVP in einem Strudel, aus dem sie nur noch schwer herauskommen wird. Juristisch sind die Beweise bisher ausgeblieben. Viel ist verdächtig, viel ist ermittelnswert; die Smoking Gun hat die WKStA aber noch nicht entdeckt. Das gegen die Justiz gerichtete Wild-um-sich-Schlagen der ÖVP macht die Angelegenheit aber nur schlimmer. Auch gegen viele (Ex-)FPÖ-Politiker wird ermittelt; diese verteidigen sich zwar, Beleidigungen oder gar Drohungen in Richtung Justiz waren aber nie zu hören.

Bisher hat sich die ÖVP damit verteidigt, die WKStA zu attackieren, auf das Fehlverhalten anderer ("Sozis") zu verweisen und die Veröffentlichung von Chats als größeres Vergehen als deren Inhalt zu sehen. Das wird sicher nicht reichen, um das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung wiederzugewinnen. (Fabian Schmid, 10.6.2021)