Frau Nachbarin, Euer Fläschchen: Hélène Bouchet und Aleix Martinez bei der gefälligen Arbeit in "Beethoven-Projekt II".

Foto: Kiran West

Unfassbare 48 Jahre lang leitet John Neumeier (82) bereits das Hamburg Ballett. Nicht alle Ballettfreunde in Deutschland vergießen Freudentränen über diese anderswo – auch in Wien – undenkbare Beharrlichkeit. Jetzt weilt Neumeier mit seiner Compagnie auf Kurzbesuch im Theater an der Wien und zeigt dort (noch einmal am Sonntag) seine 165. Ballettkreation ",Meine Seele ist erschüttert.‘ Beethoven-Projekt II".

Dass dessen Wienpremiere bei vollem Haus mit Standing Ovations quittiert wurde, ist alles andere als überraschend. Denn auch dieses Werk erfüllt alle Kriterien, die Neumeiers Erfolg – der den Mann möglicherweise eher zum Phänomen macht als seine Bedeutung für den Tanz – ausmachen.

Aus der titelgebenden Seelenerschütterung (Quelle: Beethovens Oratorium "Christus am Ölberge") plätschert erstens eine Ballettsprache, die von einer renommierten deutschen Tanzkritikerin als "gefällig neoklassisch-lieblich" charakterisiert wurde. Zweitens dominiert in der Bewegungskomposition ein gekonnt drapiertes Mittelmaß, das sein Publikum vor jeder Verunsicherung behütet. Und drittens wird diese Anlasschoreografie – Beethovens 250. Geburtstag – von einer Schar von Tänzerinnen und Tänzern getragen, deren Fähigkeiten wirklich respektabel sind.

Mit Ludwig van Beethovens "Sonate für Klavier und Violine Nr. 7", "Christus am Ölberge", der "Waldsteinsonate" und der "7. Sinfonie" öffnet Neumeier eine musikalische Bouteille, aus der er seinen Tanz einschenkt, der 105 Minuten lang durchperlt wie Sekt in bodenlosem Kelch. Zwischendurch fleht Christus am Ölberg (Klaus Florian Vogt, Tenor) zu Gottvater: "Deiner Macht ist Alles möglich, / nimm den Leidenkelch von mir!" Das 1803 im Theater an der Wien uraufgeführte Oratorium war übrigens ein Flop – vor allem wegen des mäßigen Librettos von Franz Xaver Huber.

Zeh im Kleidersaum

In Neumeiers Stück nun tun Hanni Liang am Klavier, Anton Barakhovsky (Violine) und das Wiener Kammerorchester unter Constantin Trinks hörbar ihr Bestes für die Compagnie. Letztere hat entweder mit tückischen Deko-Kostümen (Albert Kriemler) zu kämpfen – Ida Stempelmann befreit ihren Zeh gekonnt aus den Löchern ihres Kleidersaums –, mit der einen oder anderen choreografischen Laufmasche oder mit der stellenweise öligen Darstellung ihrer Körper.

Tapfer tanzt der quirlige Aleix Martinez durch sein Schicksal als Protagonist einer angedeuteten Erzählung. Sein Thema – das des bis zum zartbitter-süßen Ende vergeblich Suchenden – hat den Seltenheitswert eines Sandkorns in der Wanderdüne. Und die größte Überraschung in ",Meine Seele ist erschüttert.‘ Beethoven-Projekt II" liefert ein Mann mit Brille, der erst in einem Büchlein liest und wenig später einen Bissen von einer halb geschälten Banane nimmt.

Den Gegenpol zu dem Suchenden verkörpert eine von dem 25-jährigen Finnen Atte Kilpinen gewitzt getanzte Figur, die im Duett mit Stempelmann und deren verklärtem Lächeln ein Fest geglückter Liebe feiert. Solcherart gewärmt, erhebt sich das Publikum eben gern aus den Sitzen und applaudiert dankbar, denn die Welt draußen vor der Theatertür ist grad ohnehin so einschneidend wie eine zu eng sitzende Gesichtsmaske.

"Meine Seele ist erschüttert." Genau so ergeht es vielen verunsicherten Kulturmenschen gerade. Wohltuend wirkt da verständlicherweise John Neumeiers seelenvolles Biedermeier, das nach Ansicht der erwähnten Kritikerin seit jeher auf denselben Punkt zuläuft: "Die Hand an die Stirn zu heben und nach Riechwasser zu seufzen."

Roland Geyer, noch bis Ende der mit diesem Wunder der Ballettwelt eingeleiteten Saison Intendant des Theaters an der Wien, hätte den Auftakt seines Abschieds nicht erhebender gestalten können. (Helmut Ploebst, 29.8.2021)