Häftlinge im Maßnahmenvollzug wie hier in der Justizanstalt Stein sind aufgrund ihrer Erkrankung besonders suizidgefährdet.

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Zweimal in zwei Wochen haben sich zuletzt Insassen österreichischer Justizanstalten das Leben genommen. Nach dem Tod des Maßnahmenhäftlings Michael H. am 24. Oktober in der Justizanstalt Stein bestätigte das Justizministerium auf Anfrage nun auch den Suizid eines Insassen der Justizanstalt Hirtenberg Anfang November – dieser wurde während eines Freigangs begangen. Die Suizidrate ist in Österreich unter Häftlingen rund zehnmal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Dabei ist der Staat eigentlich dazu verpflichtet, Häftlinge auch vor Selbstgefährdung zu schützen.

"Aus Sicht der Justizanstalt Hirtenberg bzw. der Strafvollzugsbediensteten gab es keinerlei Anzeichen für eine Suizidgefahr", heißt es vom Justizministerium zu dem jüngsten Fall. Bei jenem in der Justizanstalt Stein war das anders. Michael H. habe oft von Suizid gesprochen, sagen Angehörige. Deshalb war er auch in einer videoüberwachten Zelle untergebracht. Trotzdem konnte er sich das Leben nehmen. Die Staatsanwaltschaft Krems ermittelt nun gegen unbekannt, um ein etwaiges Fremdverschulden zu klären.

"Im Rahmen dessen, was der Strafvollzug leisten kann, trifft den Staat eine Verpflichtung, für die Gesundheit und das Wohlergehen der Häftlinge zu sorgen", sagt Monika Stempkowski vom Institut für Strafrecht der Universität Wien. Das regelt unter anderem das Strafvollzugsgesetz. Nicht jeder Suizid könne verhindert, aber das Risiko auf ein Minimum reduziert werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in mehreren Verfahren eine Verpflichtung des Staates festgestellt, Personen in seiner Obhut vor Suizid zu schützen, besonders psychisch Kranke. Kommt der Staat dieser Pflicht nicht nach, kann es auch zu einer Haftung kommen. Dies muss natürlich im Einzelfall gerichtlich beurteilt werden.

Ampelsystem hat Lage gebessert

Seit 2007 wird bei neu aufgenommenen Häftlingen das Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions (VISCI) eingesetzt. Dabei wird mittels Fragebogen das Suizidrisiko erhoben und je nach Gefahr die Ampelfarbe Rot, Gelb oder Grün vergeben. Daran sind wiederum konkrete Maßnahmen geknüpft. Bei Stufe Gelb wird man in eine Zelle mit anderen Häftlingen verlegt, und bei Rot spricht ein Psychologe oder Psychiater mit dem Betroffenen. "Seit der Einführung von VISCI ist die Suizidrate in U-Haftanstalten in Österreich um 44 Prozent reduziert worden, für alle Haftanstalten in Österreich gab es eine Reduktion von knapp 35 Prozent", heißt es vom Ministerium.

Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Suizidrate in Österreich seit dem Jahr 2000 zwischen sechs und 16 Fällen pro Jahr schwankt. 2006, bevor das VISCI eingeführt wurde, war der Höchstwert erreicht. Laut Studien des Europarats lag Österreich 2019 im Vergleich mit über 40 Ländern auf Platz 13 – 2017 aber sogar unter den drei Ländern mit den meisten Suiziden pro 10.000 Häftlingen. Die Zahlen zeigen außerdem, wo die Selbstmordrate am höchsten ist: in der Untersuchungshaft und im Maßnahmenvollzug für Rechtsbrecher mit psychischen Erkrankungen.

Die Leier vom Personalschlüssel

"Die Justiz ist ein Sammelbecken für viele Menschen, die eine psychische Notsituation hatten", sagt Patrick Frottier, Psychiater, forensischer Gutachter und ehemaliger ärztlicher Leiter der Sonderanstalt Mittersteig in Wien. "Haben Menschen, die an einer psychiatrischen Erkrankung leiden, ein höheres Suizidrisiko? Ja, natürlich!" Im Maßnahmenvollzug würden die Häftlinge besonders unter der mangelnden Entlassungsperspektive leiden – denn die Maßnahme wird potenziell lebenslänglich auferlegt. Jedes Jahr wird die Gefährlichkeit eines Insassen neu beurteilt. Ist sie nicht ausreichend abgebaut, wird die Maßnahme und damit auch die Haft verlängert.

Als Ursache für die allgemein schlechten Entlassungschancen von Maßnahmenuntergebrachten sieht Frottier ein gestiegenes Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft: "Es gibt viele, die nicht rückfällig werden, aber um den einen zu erwischen, der rückfällig wird, müssen wir viele andere auch behalten. Das ist die Tendenz, die heute vorherrscht."

Der wichtigste Faktor für eine Besserung der Situation wäre ein höherer Betreuungsschlüssel zwischen Häftlingen und psychiatrischem sowie psychologischem Personal, sagt Frottier. "Aber das ist eine Leier, die von Fachleuten seit 20 Jahren wiederholt wird." Aktuell kommen in heimischen Justizanstalten auf 7.597 Häftlinge bundesweit 12,44 Vollzeitkräfte im psychiatrischen und 109,60 im psychologischen Dienst. In der Justizanstalt Stein sind es für 688 Insassen 0,47 Vollzeitkräfte im psychiatrischen und 10,58 im psychologischen Dienst.

Informationsmonopol der Anstalten

"Mit Suiziden ist eine Strafverteidigerin oder ein Strafverteidiger, wenn er oder sie mit Haftsachen in Kontakt kommt, immer konfrontiert", sagt die Anwältin und Strafrechtsexpertin Alexia Stuefer, die bereits mehrmals mit Suiziden von Mandanten konfrontiert war. Vor mehreren Jahren hat sie so auch die Angehörige eines Mannes vertreten, der in Haft Suizid beging. Nach ihrem Einschreiten wurden auch gegen einen Justizmitarbeiter Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung von der Staatsanwaltschaft geführt, die schließlich eingestellt wurden. Aus ihrer Sicht war es aber bereits ein Erfolg, dass nach ihrem Einschreiten überhaupt Ermittlungen eingeleitet wurden, weil üblicherweise nur wenig Information aus Gefängnissen nach außen dringt. "Haftanstalten sind ein in sich geschlossenes System, weil eine gewisse Monopolisierung von Informationen in den Anstalten möglich ist und Transparenz sehr schwer durchzusetzen ist", sagt die Strafverteidigerin.

Für sie lautet die Überfrage: "Wie viel sind einem Staat Personen, die er wegsperrt, wert?" Gesamtgesellschaftlich seien Inhaftierte schnell aus den Augen, aus dem Sinn, obwohl der Staat verpflichtet ist, sie zu schützen und nicht sich selbst zu überlassen, sagt Stuefer. Neben Systemen wie VISCI sieht sie wie Frottier auch die personelle Besetzung als Ansatzpunkt: Einerseits brauche es mehr psychologisches und medizinisches Personal, aber auch die Justizwache dürfe nicht unter Personalnot leiden. "Denn das erzeugt Druck, und dieser kann in einer starren Hierarchie schwerwiegende Folgen haben, weil er meist jene trifft, die sich nur schwer bis gar nicht wehren können: die Inhaftierten", so Stuefer.

Justizministerin Alma Zadić hat im Frühjahr 2021 ein Reformpaket für den Maßnahmenvollzug vorgestellt. Laut Ministerium werden aktuell rund 140 Millionen Euro investiert. "Damit soll in Zukunft ein optimales Betreuungs- und Therapieangebot zur Verfügung stehen", heißt es in einem Statement. (Johannes Pucher, Levin Wotke, 11.11.2021)