Streams und Fernsehübertragungen sind für Bogdan Roščić nicht mehr als ein Notprogramm.

Foto: Heribert Corn

Zum vierten Mal musste die Staatsoper am vergangenen Montag Lockdown-bedingt ihre Pforten schließen. Staatsopernchef Bogdan Roščić hält sein Haus aber auf Trab. Am 5. Dezember überträgt der ORF den Don Giovanni aus der leeren Staatsoper. Die Videofassung dieses StandART-Gesprächs finden Sie hier.

STANDARD: Führende Experten sagen, dass der jetzige Lockdown für Bundesländer wie Wien nicht notwendig gewesen wäre. Geht Ihnen das Geimpfte auf?

Roščić: Wir wollen uns an der Staatsoper nicht als Virologen betätigen. Es nervt nichts mehr als zusätzlicher Meinungsmüll von inkompetenter Seite. Man muss aber ehrlich sein: In den letzten Wochen war es schwer, das Infektionsrisiko für die Mitwirkenden zu beherrschen. Wir waren an mehreren Abenden knapp vor der Absage.

STANDARD: Wenn die Politik nicht eingeschritten wäre, hätten Sie selbst die Reißleine ziehen müssen?

Roščić: Bevor die Explosion der Corona-Zahlen kam, hatten wir die typischen Sängererkrankungen in rekordverdächtiger Zahl. In vier Faust-Vorstellungen mussten vier verschiedene Faust-Darsteller auf die Bühne. Das kann man bewältigen. Doch auch das bestgeführte Haus mit all seinen Sicherheitskonzepten, zumal mit über 1.000 Mitarbeitern, kommt an seine Grenzen, wenn es drumherum Corona-Infektionen in der derzeitigen Dichte gibt.

STANDARD: Manche Ihrer Kollegen sprachen von politischem Missmanagement, von Systemversagen in Bezug auf das, was sich in den vergangenen Wochen abgespielt hat. Warum so milde?

Roščić: Wer da von Staatsversagen spricht, hat noch nie einen "failed state" erlebt. Mir ist das zu aufgeregt. Aber das wirkliche Thema ist doch das Abgleiten von Teilen der Gesellschaft in völlige Irrationalität und wie sich die dann auch noch durchsetzt. Das hat und wird noch andere politische Auswirkungen haben, lange nach Corona. In was für einem Moment leben wir, wenn man zur Ultima Ratio der Impfpflicht greifen muss, weil Millionen von Menschen mit Vernunftgründen nicht mehr erreichbar sind?

STANDARD: Sie haben in den vergangenen Tagen immer wieder betont, am 13. Dezember wieder aufzusperren. Schwang da eine Portion Ironie mit, oder glauben Sie wirklich daran?

Roščić: Ich muss daran glauben, weil ich von irgendetwas ausgehen muss, sonst findet hier gar nichts statt. Es ist schwierig genug, unter den Bedingungen des Lockdowns die Öffnung für den 13. Dezember vorzubereiten. Ein großes Haus wie die Staatsoper ist nicht der wendigste Dampfer auf dem Ozean.

STANDARD: Ihr Plan B?

Roščić: Wie im vergangenen Jahr Woche für Woche sukzessive Vorstellungsserien abzusagen und nur die Neuproduktionen zu erarbeiten. Der Unterschied zum letzten Jahr besteht in der Frage: Wie lang kann man eine große Mehrheit, die geimpft ist, weiter einsperren? Da hat sich etwas Grundlegendes geändert.

STANDARD: Sie setzen in den kommenden Wochen wieder auf Streams. In der vergangenen Spielzeit kamen Sie online auf über sechs Millionen Zuschauer. Zynisch gesprochen: War das die erfolgreichste Spielzeit aller Zeiten?

Roščić: Das wäre ein messerscharfer Trugschluss. Die Streams und Übertragungen waren ein Notprogramm, jede Vorstellung an der Staatsoper mit 2.000 Zuschauern im Saal ist wichtiger. Ich glaube auch nicht, dass das Ganze endlos weitergeführt werden kann. Irgendwann kippt die Atmosphäre, und die Übertragungen werden zum Symbol eines endlosen und vermeidbaren Lockdowns. Auch finanziell bringen uns die Streams nichts, es gibt noch kein Geschäftsmodell, das im Videobereich funktionieren würde.

STANDARD: Sie haben in der Pandemie einen beträchtlichen Teil Ihres Publikums verloren, die Touristen, die mehr als ein Drittel Ihrer Zuschauer ausmachen. Wie machen Sie das wett?

Roščić: Die Frage, wie man alle anspricht, weil ja auch alle mit ihren Steuern für die Staatsoper zahlen, ist eine Frage, die über Corona hinausgeht. Was wir nicht machen können, ist, über Zielgruppen nachzudenken. Das kann an einem Haus, das per Gesetz für alle da ist, nicht sein. Die Frage lautet, wodurch manchen Gruppen der Zugang erschwert wurde.

STANDARD: Im Vergleich zu anderen Opernhäusern sind Ihre Zuschauer zehn bis 20 Jahre älter. Ärgern Sie sich über Ihre Vorgänger, die das Haus als Sängermuseum geführt haben?

Roščić: Ich halte mich da von jeglicher Polemik fern, aber da das Haus seit 1955 immer voll war, hat man vielleicht die Notwendigkeit nicht gesehen, das Haus intensiver zu öffnen. Es wäre naiv, sich auf einem solchen Erfolg auszuruhen, die Öffnung ist daher absoluter Fokus.

STANDARD: Sie sind nicht der Einzige, der dieses Problem hat. Am Volkstheater werden neuerdings Punkrock-Konzerte veranstaltet. Ein Rezept?

Roščić: Es gibt keinen Zaubertrick, aber der Schlüssel ist immer, ein Gespräch zu beginnen. Menschen, die die Oper gar nicht kennen außer im Klischee und der Karikatur, müssen die Kraft von Oper selbst erleben können. Wagner besteht eben nicht darin, dass sich beleibte Menschen fünf Stunden lang in vage historischen Kostümen ankreischen, aber das muss man am eigenen Leib erfahren haben. Für uns bedeutet das, dass wir an 500 verschiedenen Rädchen drehen, wir machen Online-Einführungsmatineen, wir öffnen die Generalproben für Publikum unter 27, wir werden bald den Französischen Saal des Künstlerhauses mit allen möglichen Formaten für junges Publikum und Kinderoper bespielen etc. pp.

STANDARD: Zum "Don Giovanni": Verlangt die Oper vor dem Hintergrund von MeToo einen besonderen interpretatorischen Ansatz, so wie im Sommer in Salzburg?

Roščić: Ich habe mit Regisseur Barrie Kosky viel darüber gesprochen, für uns hat der Don Giovanni mit MeToo nichts zu tun. Ich halte es fast für eine Verharmlosung von MeToo, diese Parallele zu ziehen.

STANDARD: Don Giovanni war ein Schwerenöter, er steigt nachts bei Donna Anna ein ...

Roščić: ... und bezahlt das dann letztlich mit seinem Leben. Aber selbst wenn man Giovanni für das hielte, was der Wiener einen "Steiger" nennt – es kann ja wohl nicht sein, dass man das nicht mehr auf einer Bühne zeigen kann. Die Frage ist, wie und in welcher Absicht. MeToo prangert an, wie gewisse ökonomische und gesellschaftliche Strukturen zum Terror im Intimen führen. Giovannis Thema ist viel einfacher oder möglicherweise sehr viel komplizierter. Das 19. Jahrhundert hat ihn für einen Faust gehalten, der bei der Suche nach Befriedigung des "ewigen brennenden Sehnens" zu drastischeren Mitteln greift.

STANDARD: Die DaPonte-Opern sind für jedes Haus eine besondere Herausforderung, Ihr Vorgänger ist an ihnen gescheitert. Warum vertrauen Sie Kosky, dass er das hinbekommt? Den "Lohengrin" hat er seinerzeit in den Sand gesetzt.

Roščić: Aus dem grundsätzlichen Vertrauen zu den Fähigkeiten eines Meisterregisseurs, dessen Arbeiten ich sehr genau kenne. Mein erstes Treffen nach der Bestellung zum Direktor war mit Kosky, dem ich den Da-Ponte-Zyklus angeboten habe.

STANDARD: Letzte Frage, wie könnte es anders sein, zum Opernball: Welchen Zeithorizont haben Sie noch? Letztes Jahr haben Sie bereits Ende September abgesagt.

Roščić: Wir sind längst über alle sonst geltenden Deadlines drüber. Aber alle Beteiligten machen mit, um die Chance zu wahren, dass er doch stattfinden kann. Irgendwann ist man natürlich trotzdem beim Point of no Return, in ein paar Wochen ist der erreicht. (Stephan Hilpold, 28.11.2021)