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Stephen Sondheim.

Foto: AP

Washington – Als der junge Stephen Sondheim dem Vater seines Freundes Jimmy, also Oscar Hammerstein II, Proben seines Schaffens vorlegte, empfahl ihm der etablierte Texter: Zwecks Weiterbildung möge der Junge ein Musical zu einer bekannten Erzählung schreiben, die noch nie dramatisiert wurde. Sondheim tat es, und Hammerstein wurde sein Mentor. Nebst Kompositionsstudien beim Avantgardisten Milton Babbitt blieb diese Begegnung mit dem Mitautor von Klassikern wie Show Boat und Sound of Music extrem prägend.

Sondheim, 1930 in New York geboren, blieb nicht nur beim Musicalgenre. Auch vertonte und dramatisierte er, wie empfohlen, nicht nur bekannte Geschichten. Mitunter nahm er Figuren aus berühmten Märchen und würfelte sie zu einem neuen Stück zusammen. Etwa bei Into the Woods.

Brutales Märchen

Das 1987 in New York uraufgeführte Musical wirkt als Party jener Figuren, die wir von den Brüdern Grimm her kennen. Aschenputtel, Rapunzel, Rotkäppchen und Hexe sind da jedoch in Todesgefahr. Sie treten gegen eine mörderische Riesin an, die schließlich selbst erledigt wird. Auch musikalisch ist das Stück, das uns und die überlebenden Märchenfiguren lehren soll, wie wichtig gesellschaftlicher Zusammenhalt ist, trotz seiner Leichtigkeit von besonderer Raffinesse.

Rund um eine zentrale markante Kernmelodie ist Into the Woods ein Exempel ambitionierter Kompositorik, welche die Geschichte und deren dramaturgische Anforderungen berücksichtigt. Text und Musik sind gleichberechtigt, befinden sich im Gleichgewicht. Das durchkomponierte Musical glänzt durch seine anspruchsvolle Instrumentierung, wie es übrigens nicht bei jeder Oper Sitte ist. Das Orchester kommentiert das Geschehen, leuchtet es farbsubtil aus, charakterisiert Figuren. Obwohl Sondheim mit dem aus seinem Musical A Little Night Music kommenden Lied Send in the Clowns einen Welthit landete, war er vor allem ein Vertreter des anspruchsvollen, mitunter engagierten Musicals gewesen.

Sozialkritische Themen

Es gab dazu Vorbilder. Leonard Bernsteins West Side Story (1957) – jenes Stück, mit dem der 25-jährige Sondheim bekannt wurde, da er die Liedtexte schrieb – zeigte, wie man sozialkritische Themen und Hitqualität unverkrampft verschmelzen kann. Und Sondheim intensivierte diesen Anspruch sogar und wählte gerne Topoi, mit denen es anzuecken galt.

Seine Projekte konzipierte er nicht vordringlich unter jenem kommerziellen Gesichtspunkt, der etwa beim reiferen Andrew Lloyd Webber zu dominieren schien. Nicht zufällig heißt Webbers Musicalfirma durchaus offenherzig "Really Useful Group" ...

Hört man ein Stück wie Sunday in the Park with George, für das Sondheim 1985 den Pulitzerpreis erhielt und das von einem Gemälde des französischen Malers Georges Seurat inspiriert ist, zeigt sich: Mit virtuosem Handwerk hat Sondheim eher das musikalisch Satirische des klassischen Musicals in die Moderne hinübergerettet, als massentaugliche Blockbuster zu produzieren.

Attentäter auf die Bühne

Die Charaktere, die er dabei entwickelte, waren denn auch nie harmlos. In Sweeney Todd wütet ein Barbier, der nach Verlust von Frau und Kind im Rachewahn Kunden tötet. Sondheim, den sie "Broadway’s Bad Boy" nannten, hielt dieses Werk für eine "schwarze Operette". Doch auch ein Stück wie Assassins (1990) ging nicht als helles Kitschlicht des platten Entertainments in die Musicalgeschichte ein. Darin werden einige historisch verbürgte Attentäter auf die Bühne geschickt, die versucht hatten, verschiedene US-Präsidenten umzubringen.

Was Wunder, dass Sondheims nie anbiedernde Werke in der "Musicalmetropole" Wien gerade einmal an der Wiener Volksoper zu sehen waren und sind (Into the Woods kommt wieder), nicht jedoch im Raimundtheater oder im Ronacher. Komponist und Texter Stephen Sondheim ist am Freitag in seinem Haus in Roxbury im US-Bundesstaat Connecticut 91-jährig gestorben. Am Vortag hatte er mit Freunden noch Thanksgiving gefeiert. (Ljubisa Tosic,28.11.2021)

Sondheim erhielt 2015 die Freiheitsmedaille.
Foto: AFP/NICHOLAS KAMM