So wie hier in Düsseldorf am vergangenen Wochenende demonstrieren auch in österreichischen Städten Tausende gegen Impfpflicht, 2G-Regeln und Lockdown.

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Am Sonntag diskutiert der Berliner Politikwissenschafter und Demokratieforscher Wolfgang Merkel gemeinsam mit der Klimaaktivistin Katharina Rogenhofer, der Virologin Dorothee von Laer und dem Medienmanager Veit Dengler im Rahmen der STANDARD-Reihe "Europa im Diskurs" über die Grenzen der Freiheit in Zeiten von Corona und Klimakrise. Dem STANDARD erklärte er vorab, wie die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gelingen könnte.

STANDARD: Haben die Menschen, die seit Monaten auf Demonstrationen durch österreichische und deutsche Städte ziehen, nicht eigentlich recht, wenn sie Maßnahmen wie die Impfpflicht als Einschränkung ihrer Freiheit benennen?

Merkel: Natürlich sind diese Dinge eine Einschränkung, aber die Frage ist stets, ob diese Einschränkungen legal und legitim sind. Mit Dingen wie der Impfpflicht glaubt der Staat seiner Schutzpflicht nachzukommen; wie weit er dafür die individuelle Freiheit einschränken darf, muss in jedem Fall demokratisch und rechtsstaatlich entschieden werden. Dass sie eingeschränkt wird, ist in unseren liberalen Gesellschaften ohnehin an der Tagesordnung. Weder kann man mit 80 km/h durch die Stadt fahren noch bis vier Uhr in der Früh im Mietshaus Party feiern.

STANDARD: Warum löst die auch in Deutschland diskutierte Impfpflicht bei manchen dann solch eine Panik aus, sodass sie sich in einer Diktatur wähnen?

Merkel: Wer von einer Diktatur spricht, verbreitet entweder Nonsens oder schreibt einen rechten Kampfbegriff fort. Wir sollten aber nicht unterschätzen, dass es sich beim Impfen um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit handelt. Nicht alle glauben an die rationale Aufklärung der Wissenschaft. Das mag weder besonders kundig noch intelligent sein, aber in einer Demokratie ist es legitim, nicht an die Wissenschaft zu glauben oder den Eingriff des Staates ins eigene Leben abzulehnen, wie es Libertäre tun. Als Demokratieforscher ist es mir aber wichtig, diese Meinung und die Menschen dahinter ernst zu nehmen. Tun wir das nicht, drohen uns Millionen von Menschen in der liberalen Demokratie verlorenzugehen. Inmitten all der großen Transformationsaufgaben und Unsicherheiten darf sich das eine repressionsarme, inklusive Demokratie nicht leisten.

Wolfgang Merkel: "In Skandinavien wird die Corona-Debatte viel unaufgeregter geführt als in Österreich oder Deutschland."
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STANDARD: Die österreichische Regierung hat zu Beginn der Pandemie stark auf den Faktor Angst gesetzt, als sie den ersten Lockdown zu kommunizieren hatte. Ist Angst der einzige Weg, in einer freien Gesellschaft freiheitseinschränkende Maßnahmen zu verkaufen?

Merkel: In Deutschland haben wir eine ähnliche Politik der rationalen Angst gesehen wie in Österreich. Angst als Steuerungsinstrument der Politik nützt sich auf Dauer ab. Wenn die Worst-Case-Szenarien dann nicht eintreffen, verspielt die Regierung schnell das Vertrauen der Bürger. Das mag wenige Monate lang funktioniert haben, im dritten Jahr der Pandemie funktioniert es nicht mehr. Wissenschaftlich gestützte Aufklärung über die Risiken dieses heimtückischen Virus müssen wir vom Staat erwarten können – eine Politik der Angst nicht.

STANDARD: In Deutschland regiert jetzt eine linksliberale Koalition. Tut sie sich schwerer oder leichter damit, etwa eine Impfpflicht zu beschließen, als die alte, große Koalition?

Merkel: Fest steht, dass die Unterschiede unter den drei Ampelparteien größer sind, als sie es zwischen den beiden Parteien der alten Koalition aus CDU/CSU und SPD waren. Die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokraten haben den Schutz des Lebens zwar immer an die erste Stelle gesetzt. Dafür waren sie meinem Dafürhalten nach zu schnell, zu willig und zu lange bereit, Freiheitsrechte einzuschränken. Die FDP als dritter Koalitionspartner hat stets stärker auf die Wahrung der individuellen Freiheit gedrängt, auch um das Risiko höherer Infektionszahlen. Teile der FDP bereiten jetzt gerade einen Antrag auf Ablehnung der allgemeinen Impfpflicht vor. Und genau dort verläuft die Konfliktlinie in der Ampelkoalition.

STANDARD: Auch um die Klimakatastrophe noch abzuwenden, werden einschneidende Maßnahmen notwendig. Wie sollten demokratisch gewählte Regierungen, die ja meist im Amt bleiben wollen, da vorgehen?

Merkel: Eine abstrakte Moralvorschrift hilft wenig. Man muss bei den Interessen der Menschen ansetzen. Anreize sind wirkungsvoller als Verbote und einer freiheitlichen Gesellschaft auch angemessener. Von der Klimapolitik werden besonders die sozioökonomisch unteren 50 Prozent unserer Gesellschaft betroffen sein. Dort spürt man sofort, wenn das Heizen oder das Autofahren teurer wird. Es wird aber sehr darauf ankommen, auch die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der weniger Begünstigten zu berücksichtigen. Gelingt dies nicht, wird die Klimapolitik scheitern, weil sie keine Mehrheit hinter sich bringt. Ein Beispiel dafür ist die Debatte, wie nahe Windräder an Wohngebieten gebaut werden dürfen. Wer auf radikale Lösungen setzt und keine Rücksicht auf die Anwohner nimmt, beweist wenig Respekt vor den individuellen Freiheiten und Eigentumsrechten. Der Rechtsstaat muss eine Balance zwischen der individuellen Freiheitssphäre und der kollektiven Steuerung herstellen.

STANDARD: Klimaaktivistinnen und -aktivisten wie Greta Thunberg äußern sich aber frustriert über die behäbigen Mechanismen, mit denen demokratische Staaten der Klimakrise begegnen. Läuft uns nicht die Zeit davon?

Merkel: Wer meint, die Menschheitsaufgabe, das Klima zu retten, verlangt das Überspringen demokratischer Prozesse, befindet sich nicht mehr auf dem Boden der freiheitlichen Demokratie. Wenn ich gleich mit dem Überleben der Menschheit argumentiere, kann ich fast alles und damit fast nichts legitimieren. Dass die Rettung des Klimas enorm schwierig wird, steht außer Frage. Aber wer sagt, es sei fünf Minuten nach zwölf, tut das Gleiche wie jene, die in der Pandemie immer nur mit Angst argumentieren. Angst ist ein schlechter Ratgeber für Freiheit und kluges Regieren.

STANDARD: Zurück zu Corona, wo der Diskurs moralisch stark aufgeladen ist. Gruppen behandeln einander mitunter als Feinde. Wie könnte man die Gesellschaft wieder zusammenbringen?

Merkel: Niemand hat einen Meisterplan. Aber wir sollten aufhören, moralistisch zu argumentieren und zu glauben, dass es nur eine Moral gibt. Toleranz tut weh, aber wenn wir die andere Seite ausgrenzen und moralisch diffamieren, verlieren wir sie. Die Politik darf diese Konfliktlinie nicht schüren.

STANDARD: Gibt es in der Politik jemanden, der oder die Sie diesbezüglich beeindruckt?

Merkel: In Skandinavien wird die Corona-Debatte viel unaufgeregter geführt als in Deutschland oder Österreich. Da denke ich nicht nur an Schweden, sondern auch an Dänemark, wo eine wenig verbotsintensive Corona-Politik medizinisch viel erfolgreicher war und die Gesellschaft weit weniger in dieser Frage gespalten ist als bei uns. (Florian Niederndorfer, 10.2.2022)