Seine Gedanken lesen: Martin Kušej, seit 2019 Direktor des Burgtheaters.

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Was wäre der Buchhandel ohne die Theaterliteratur? Nein, nicht von Stücktexten oder Theaterwissenschaft ist die Rede. Es geht um Unterhaltungsliteratur, das dem Publikum die Machinationen des Theaterbetriebs nahebringt und seine Innensicht mit Anekdoten aus erster Hand würzt. Wie hat der Künstler das nur gemacht? Der Verehrungswunsch verlangt das imaginierte Gegenüber in der Lektüre. Das autobiografische Bekenntnis, mit dem Genies und Virtuosen ihr Wirken selber deuten, ist dafür der GoldStandard. Das Gendern kann man sich sparen, solche Erbauungsliteratur ist überwiegend das Werk von Autoren. Gert Voss tat es, Claus Peymann tat es, Peter Zadek, Hans Neuenfels und Legionen anderer.

Leistungssportler im Handball

In Hinter mir weiß (bei Edition A) reflektiert jetzt auch Martin Kušej, seit 2019 Burgtheaterchef, seine eigene Theatergeschichte. Was das Buch von anderen unterscheidet, ist, dass jemand schreibt, der noch etwas will und nicht für die Unsterblichkeit übt. Er liefert, um im Bild seiner früheren Tätigkeit als Leistungssportler im Handball zu bleiben, die Halbzeitanalyse mit dem Anspruch, auch die zweite Hälfte durchzuspielen. Das Buch erscheint mit dem Hochfahren des Theaterbetriebs nach der Pandemie, die Kušej viele Gestaltungsmöglichkeit gekostet hat, und rechtzeitig vor der für Herbst geplanten Ausschreibung des begehrten Direktionspostens.

Das Buch erzählt vom Outsider und Aufsteiger im kulturellen Feld, von sozialen Schranken in einem Milieu, das besagt, es gebe keine, von der Ambivalenz gegenüber dem hauptstädtischen Kulturbetrieb und davon, dass Fremdheit nicht selten dort entsteht, wo die Dinge am vertrautesten scheinen.

Körperlich austragen

In Slowenien, so schreibt er, konnte er sich gut als Slowene fühlen, in Deutschland als Deutscher. In Wien sich als Österreicher zu fühlen, falle ungleich schwerer. Man muss sich den frühen Kušej als jungen Mann vorstellen, der die Widersprüche seiner Umwelt körperlich austrägt, da sie ihm jede Zwiesprache verweigert: die Enge des Landlebens, die verdrängte slowenische Kultur der Familie, die von Österreich wenig gedankte Loyalität der Kärntner Slowenen zur Republik, der Fetisch des "Deutschseins" in einer unterentwickelten Region.

All das brachte seine erste Inszenierung als Grazer Regiestudent in Kärnten kraftvoll zum Ausbruch und entdeckte den Skandal als Gegenwehr zur Diskursverweigerung. Graz war nicht jene Welt, die Studierende vorwiegend aus der Branchenpostille Theater heute kennenlernten. In Ljubljana konnte die Aufbruchstimmung in den 1980ern schon eher mitreißen.

Assistenzbewerber am Burgtheater bei Claus Peymann

Wien war noch weit und sollte noch lange ein Ort der Widerstände und der Frustration sein. Eine erste Abfuhr holte sich der junge Assistenzbewerber am Burgtheater bei Claus Peymann. Der suchte einen "schnellen Assistenten", eine Form von Wendigkeit, die er mit dem hochtrainierten und für seine Wahrnehmung proletarisch codierten Körper nicht verband. Mit der Antwort, er schaffe die 100 Meter in 12,1 Sekunden, tappte der Bewerber in die Klassismus-Falle und war draußen.

Später in der Ära Bachler hatte Kušej als Regisseur vielleicht seine beste Zeit. Im Protest gegen Schwarz-Blau wurde ihm das Theater zum Bollwerk eines "anderen Österreich". Dennoch wurde er nicht Bachlers direkter Nachfolger, er hatte dann sogar mit Österreich – auch wenn er jetzt darüber nicht schreibt – fast abgeschlossen, bevor er aus einem laufenden Vertrag ans Burgtheater wechselte.

Dinge am Punkt

Die Beschreibung seiner Arbeiten zeigt ihn, der als Zertrümmerer geziehen wurde, traditionsbezogen. Er hält an konventionellen Werkbegriffen fest oder auch an jenem der Interpretation, der den einsam-subjektiven Regisseur dem Autor gegenüberstellt. Wäre nicht mehr zu erfahren gewesen über die Arbeit mit Schauspielern und Schauspielerinnen? Welche ikonografischen Überlegungen treiben ihn? Kušej bringt Dinge auf den Punkt, aber nicht selten würde man genau da gerne weiterreden. Vielleicht beim nächsten Mal. (Uwe Mattheiß, 16.5.2022)