Zweimal Iphigenia: Oda Thormeyer (li.) und Rosa Thormeyer in der Neudeutung des Stoffes bei den Salzburger Festspielen.

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Auf dem ohnehin fluchbeladenen Geschlecht der Atriden lastet seit Donnerstagabend ein weiteres Unglück: Seine Mitglieder, bekannt aus Unterricht und Reclam-Heft, gleichen den Vertretern der neuen Mittelschicht aufs Haar. Auf der Halleiner Pernerinsel begegnet man einerseits Agamemnon, Klytaimnestra oder eben "Iphigenia": Geschöpfen, die aufgrund monströser Gräuel das Blut ihrer engsten Angehörigen vergießen.

Bei den Salzburger Festspielen sind die Antikenmonster andererseits unser aller Brüder und Schwestern. Sie halten Ethikvorlesungen (wie Buchautor Agamemnon), wenn sie nicht gerade auf dem Boden ihres Eigenheims gesunde Gurken hobeln oder in blickdichter Unterwäsche herumstolzieren. Dazu leiden sie an sexuellen Binnenspannungen. Dann wälzt sich die schöne Helena (Lisa-Maria Sommerfeld), eine unbändige Nymphomanin mit Mehrgewicht (sic!), auf dem wertigen Naturholzboden der Pernerinsel wie eine rollige Antikenkatze.

Aufsehenerregend unschlau

Iphigenia (Rosa Thormeyer), Titelheldin dieser aufsehenerregend unschlauen Neudeutung des Mythos, vertraut ihre schwere seelische Belastung lieber gleich einem Konzertflügel an: Plink-plink, tropfen die beiden immergleichen Töne in den bürgerlichen Haushalt. Weil sich heutige Dramatikerinnen das antike Verhängnis nicht anders vorzustellen vermöchten denn als MeToo-Fall, haben Joanna Bednarczyk (Autorin) und Ewelina Marciniak (Regisseurin) die Geschichte Iphigenies kleingehackt. Motive miteinander kurzgeschlossen, die Figuren heruntergekürzt auf mickrige "Singularitäten" (Soziologe Andreas Reckwitz). Willkommen im Trockeneisnebel des Hamburger Thalia-Theaters, das als Koproduzent dieser mittleren Tragödienkatastrophe zeichnet.

Die Neurosen köcheln auf Mittelschichtstemperatur. Menelaos (Stefan Stern), gediegen verwahrloster Bruder des über Täter- und Opferschaft schwadronierenden Professors, hat während zehn Jahren seine Nichte missbraucht: die Bedauernswerte entblößt und erniedrigt. Papa (Sebastian Zimmler), ohnehin der Hysteriker in der Familie, wiegelt ab. Skandalgerede kann er jetzt, zur Veröffentlichung seines Theoriebestsellers, leider nicht gebrauchen. Mama Klytaimnestra (Christiane von Poelnitz), als einzige Beteiligte hier eine Pracht, weiß auch keinen besseren Rat an ihr Töchterlein als: durchzuhalten. Iphigenies Bräutigam Achill (Jirka Zett)? Ein windelweicher Fußballprofi. Sein Anspruch auf die Pianistin erlischt, sobald ihm die Schwiegermama in spe sexuelle Erleichterung verschafft hat. Er zieht, bildlich gesprochen, unter heillosem Geflenne den Schwanz ein.

Zumutung der Triebunterdrückung

Euripides' mehrmalige Darstellung von Iphigenies aulischem Opfer bleibt ebenso unberücksichtigt wie Goethes folgenreiche Läuterung der Priesterin auf Tauris: Dort wird sie zur Fürsprecherin wahrer, das heißt auch erpresserischer Humanität. Das bürgerliche "Verhängnis" meint immer auch die Leugnung persönlicher Verantwortlichkeit: Dort, wo das Fatum vorsätzlich blind wütet, wähnt sich der Missbrauchstäter von der Zumutung der Triebunterdrückung ein Stück weit entlastet.

Von solchen prekären Erwägungen wissen sich Bednarczyk und Marciniak unangekränkelt. Die Iphigenie als junges Opferlamm wird um ihr altes, nach Tauris entrücktes Ego verdoppelt. Dort – auf der heutigen Krim! – kehrt die echte Mutter der Schauspielerin Rosa Thormeyer als Pensionswirtin wieder, als Ethiklehrerin aller Tavernengäste: Oda Thormeyer. (Manche Veteranen werden sich vielleicht daran erinnern, wie Thormeyer in Claus Peymanns winddurchtoster "Sturm"-Inszenierung an der Wiener Burg einst die Miranda gab!)

Tüchtiges Ensemble

Heute muss sich Iphigenie die Ältere von Orest (Zett) anhören, wie dieser im bürgerlichen Kasten vor den Nachstellungen durch die Eltern Schutz gesucht hatte. Dazu vollführt das arme, tüchtige Ensemble allerlei Verrenkungen, geht Klytaimnestra im Planschbecken blutbaden. Oder es ölt sich das Personal die Gliedmaßen ein, damit die antike Rachesonne den Figuren nicht den Biedersinn versenge.

Das doppelte Iphigenchen: Diese ebenso vollmundige wie hilflose Abwicklung eines großen Menschheitsstoffes gleicht einer Verlustanzeige. Diese wurde von den einen mit Unmut begrüßt, von den anderen mit der größten Zurückhaltung beklatscht. (Ronald Pohl, 19.8.2022)