Liz Truss macht sich bereit für die Downing Street.

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Was der französische Präsident Emmanuel Macron aus britischer Sicht sei, "Freund oder Feind"? Von jedem Londoner Spitzenpolitiker erwartet man die instinktive Antwort "Freund". Genau dieses Wort verwendet Ex-Finanzminister Rishi Sunak, einer der beiden Bewerber für die Nachfolge Boris Johnsons als Vorsitzender der Konservativen und damit auch für das Amt des Regierungschefs Großbritanniens.

Liz Truss hingegen, immerhin Außenministerin, teilte ihren Parteifreunden im ostenglischen Norwich jüngst mit, über diese Frage sei "das Urteil noch nicht gesprochen". Wenn sie erst einmal in der Downing Street installiert sei, werde sie den Pariser Staatschef "an dessen Taten messen, nicht an Worten". Der Saal reagierte mit Gelächter und Beifall auf die Ungeheuerlichkeit: Die heiße Favoritin für das höchste Regierungsamt des Landes beleidigte damit nicht nur den Repräsentanten eines der engsten Verbündeten – Waffenbruder aus zwei Weltkriegen, Partner in Nato, G7 und im UN-Sicherheitsrat. Sie stößt damit auch mutwillig den Nachbarn der Insel vor den Kopf, auf dessen Kooperation, ja Hilfe die Briten in ihrer Flüchtlingspolitik, im Handel mit der EU, im Streit um Nordirland täglich angewiesen sind. Macron reagierte eindeutig: Das Königreich sei Frankreichs Freund, "ungeachtet der gerade Regierenden".

Truss steht vor Sieg

Wie viel Unsinn dürfen Wahlkämpfer erzählen, wie viel Charakterlosigkeit zeigen? Diese Fragen stellt man sich bei jeder freien Wahl, der Urnengang der Tories macht da keine Ausnahme. Bis Freitag konnten die Parteimitglieder abstimmen, ob Truss oder Sunak die weniger schlechte Lösung darstellt. Am Montag (13.30 Uhr MESZ) wird der siegreiche Name verkündet. Doch den Umfragen zufolge steht die Gewinnerin schon seit Wochen fest: Liz Truss.

Auch was Dummheiten, falsche Behauptungen, unhaltbare Versprechen angeht, liegt Truss meilenweit in Führung. Manche halten die 45-Jährige geradezu für "gefährlich impulsiv und halsstarrig", wie der Times -Starkolumnist Matthew Parris schrieb. Drastisch hat auch Johnsons abtrünniger Chefberater Dominic Cummings seine Geringschätzung ausgedrückt: Truss sei "eine menschliche Handgranate".

Man mag das für Polemik halten. Tatsache ist aber: Nicht erst im Wahlkampf hat Truss jenen nach dem Mund geredet, die für ihr Fortkommen wichtig sind. Gnadenlos bedient sie die Klischees, die das kleine Häuflein der rund 160.000 Parteimitglieder – etwa 0,3 Prozent der Wahlberechtigten – liebgewonnen hat. Mitten in einer Teuerungswelle (derzeit 10,1, demnächst bis zu 18 Prozent) verspricht sie Steuersenkungen, was allen ernstzunehmenden Ökonominnen zufolge Unsinn ist, jedenfalls aber jene Millionen von Bürgern nicht entlastet, die sich mit exorbitant steigenden Energiepreisen konfrontiert sehen.

Dass die Zentralbank für den Herbst eine einjährige Rezession vorhersagt, hält Truss für Schwarzmalerei. Überhaupt müsse das Mandat der Bank of England bald überarbeitet werden – die solcherart angekündigte Beschneidung der Unabhängigkeit sorgt schon jetzt für Unruhe am Finanzplatz London.

Gemischte Signale

Sie sei an "einer positiven Beziehung zur EU" interessiert, beteuert Truss treuherzig. Gleichzeitig schmiedet ihr Team Pläne, das Nordirland-Protokoll und damit den völkerrechtlich gültigen Austrittsvertrag sogleich auszusetzen. Damit wird der Handelskonflikt mit dem größten Binnenmarkt der Welt unausweichlich. Macht nichts: Im Zweifel kann man immer Brüssel die Schuld in die Schuhe schieben.

Mit dubiosen Versprechungen und höchstens viertelwahren Behauptungen ähnelt Truss ihrem Vorgänger. Und tatsächlich haben ihre Büchsenspanner eifrig an der Legende gewebt, Johnson sei durch eine parteiinterne Intrige gestürzt, mit Sunak als Hauptverschwörer. Von Anfang an haben Truss und ihr Team in der Partei auf eine Politik der verbrannten Erde gesetzt, auch darin Boris Johnson ähnlich.

Der scheint immerhin so viel dazugelernt zu haben, dass er zuletzt in gewohnt blumiger Art das außenpolitische Porzellan zu kitten versuchte: Macron sei ein "très bon Buddy" und "großer Fan unseres Landes". Mal sehen, ob sich der derart Gelobte auch für die neue Bewohnerin der Downing Street begeistern kann. (Sebastian Borger aus London, 5.9.2022)