Ein als Tagesanzeiger fungierender Chor (die supertollen Damen des Wiener Kammerchors) spricht rhythmisierte Texte, singt aber auch Choräle.
Foto: Armin Bardel

Wien – Das Einzige, was dem Menschen (m/w/d) auf Erden außer dem Tod sicher ist, ist seine Einzigartigkeit. Oder muss es in Zukunft heißen: was ihm sicher war? Für Justine jedenfalls ist es in puncto Singularität eher suboptimal gelaufen: Sie ist ein Klon. In Jörg Widmanns im Jahr sieben nach der Geburt von Klonschaf Dolly uraufgeführter Oper Das Gesicht im Spiegel hat der Bioingenieur Milton Justine aus der DNA seiner Chefin Patricia entwickelt.

Der Klonfrau ergeht es zwar nicht ganz so schlecht wie ihrer Vornamensvetterin bei Marquis de Sade, aber Gelüste muss Justine auch hier gleich mehrfach bedienen. Patricia möchte die von ihrer Firma hergestellten Klone als lukrative Quellkörper für Organspenden vermarkten. Und der Wissenschaftsnerd Milton (Georg Klimbacher) möchte das Duplikat seiner Chefin als Bettgespielin benützen. Da sieht sich die arme Justine, kaum der Petrischale entwachsen, gleich übermenschlichen Anforderungen gegenüber.

Erregung und Getriebe

Roland Schimmelpfennig hat mit seinem Libretto einen eher spröden Bauplan für Widmanns Schöpfung verfasst, der Genie vermissen lässt; immerhin blitzen gegen Ende zwei, drei Bonmots auf. Patricia ist die Zentralfigur seines Textes: ein Business-Vamp in Rot mit dem Credo "Geld ist geil". Roxane Choux muss in dieser Partie vokal alles geben, und sie tut es auch. Patricias Klon wird von Regisseur Carlos Wagner verdoppelt: Ana Catarina Caseiro singt die Justine größtenteils in semitransparenten Séparées, auf der aseptisch-kühlen Bühne (Christof Cremer) wird sie von einer Tänzerin (Eszter Petrány) verkörpert.

Vielfältig ist auch die Musik. Widmann hält sich an das erste Theatergesetz: Du sollst nicht langweilen! Nach rhythmisiertem Beginn von fast musicalartiger Schlichtheit ist da viel Erregung und Getriebe. Nach und nach gönnt Widmann den Zuhörenden Ruheinseln, die vor allem bei der Liebesszene von Patricias Partner Bruno (Wolfgang Resch) und Justine zu betören wissen. Ein als Tagesanzeiger fungierender Chor (die supertollen Damen des Wiener Kammerchors) spricht rhythmisierte Texte, singt aber auch Choräle. Begeisterter Applaus für Dirigent Walter Kobéra, das Amadeus Ensemble Wien und alle Beteiligten, ob original oder geklont. (Stefan Ender, 13.9.2022)