Der Dirigent, der beim Dirigieren niemals lächelt: Franz Welser-Möst.

Foto: Julia Wesely

Wien – Kulturelle Aneignung ist nicht grundsätzlich pfui. Sie hat auch positive Folgewirkungen. In den USA setzte man bald nach der Gründung der großen Symphonieorchester Ende des 19. Jahrhunderts auf den Import von Orchesterleitern aus der Alten Welt – und tut dies bis zum heutigen Tag.

Aktuell sind in den Vereinigten Staaten zwei Österreicher in solchen Führungspositionen langzeitbeschäftigt: Manfred Honeck leitet seit 2008 das Pittsburgh Symphony Orchestra, Franz Welser-Möst amtiert seit zwei Jahrzehnten als Musikdirektor in Cleveland. Diese Klangkörper reisen in regelmäßigen Abständen in die Heimatländer ihrer Dirigenten, um dort das sorgsam angeeignete Kulturgut in Form von Konzerten wieder zurückzugeben. So waren etwa das Cleveland Orchestra und Welser-Möst am Mittwoch im Musikverein zu Gast.

Organische Weise

Nach drei unverbindlich interpretierten Stücken aus Alban Bergs Lyrischer Suite stand nach der Pause Anton Bruckners Neunte auf dem Programm. Welser-Möst präsentierte das Werk in einer selbstverständlichen, organischen Weise und trug es mit seinem Orchester in zügigen Tempi (fünf Minuten schneller als Karajan) wie eine große, zusammenhängende Erzählung vor. Die letzte, unvollendete Symphonie des komponierenden Oberösterreichers war beim dirigierenden Oberösterreicher keine blockhafte Architektur, sondern wie ein fließendes Gewässer ohne Staumauern. Die Extreme gingen in dieser Deutung allerdings flöten, Gegensätze wurden eher aufgeweicht und mit verbindendem Geist behandelt, homogenisiert.

Der Dirigent, der beim Dirigieren niemals lächelt, rückte solcherart den zürnenden Schöpfergott und seine fragile, zagende Kreatur näher zusammen: Nach dem massiven Poltern auf d im Scherzo war die zarte, tänzerische Aufwärtsbewegung (eigentlich im Piano) sogleich von vitaler, handfester Zuversicht erfüllt. In Summe ergab sich eine Deutung, die mehr unterhielt, als dass sie erschütterte.

Eilige Kulturgutrückführung

Ein Beispiel: Bei manchen Dirigenten präsentiert sich der D-Dur-Akkord im fünften Takt des Adagios wie eine majestätische Festung aus gleißendem Licht, die sich aus einem düsteren, beschwerenden, schlingpflanzenverstrickten Urwald erhoben hat.

Bei Welser-Möst war der Akkord einfach nur der Zielpunkt eines Crescendos. Stehender Applaus für die eilige Kulturgutrückführung aus Amerika. (sten, 15.9.2022)