Mephisto (Lavinia Nowak) mit ungehobeltem Gruß aus dem orgiastischen Hotelzimmer, in dem die Lebensgeister toben.

Foto: Marcel Urlaub

Der Teufel muss in Goethes Faust einiges aufbieten, um den an Lebenstristesse laborierenden Gelehrten aus der Reserve zu locken. Trotz diverser abgeschlossener Studien mangelt es diesem Heinrich Faust nämlich grundlegend an Erkenntnisgewinn. So etwas frustriert natürlich!

Da wirft sich der Gehörnte in Schale – in der Volkstheater-Inszenierung von Kay Voges sind dies enge Kleider mit glutrotem Gefieder (Kostüm: Mona Ulrich) – und ringt dem Erdling die alles entscheidende Wette ab. Sollte es dem Teufel tatsächlich gelingen, dem Heinrich das Leben in all seiner Pracht erkenn- und spürbar zu machen, so würde sich der Mensch ihm ausliefern.

Im Original heißt es: "Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!"

Fausts Midlife-Crisis ist profund. Andreas Beck als Ausgangs-Faust lässt auch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sich ein solches Weiterleben kaum mehr lohnt. Mit Grabesmiene schreitet er schwer aus der Bühnenfinsternis hervor.

Goethe taucht die Welt des deprimierten Helden von Anfang an absichtsvoll in Dunkelheit und Zwielicht. Genau auf diese bedeutsamen Lichtverhältnisse zielt Voges’ Neuinszenierung ab. Folglich besteht dieses Theater im Kern aus einer Aneinanderreihung live fotografierter Szenen (Fotograf: Marcel Urlaub).

Teuflisches Leben

Es sind Blitzlichtbilder aus Fausts ausgehebeltem Leben, beginnend bei Suizidgedanken beim Rasieren, aber auch Bilder vom orgiastischen Partyleben, das sich in einem auf der Bühnenmitte platzierten Castorf’schen Kubus abspielt (Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch) und dessen Momentaufnahmen im Nu nach und nach auf der riesigen Leinwand erscheinen.

Der Text dazu wird meist synchron über Mikrofon an der Rampe gesprochen. Faust-Darsteller Beck hat folglich nichts anderes zu tun, als nach vorn zum Ständer zu gehen und ins Mikrofon zu sprechen. Im Hintergrund haxeln sich derweil seine verjüngten Versionen (Frank Genser und Claudio Gatzke) am neuen teuflischen Leben ab.

Voges zerlegt also den Abend in einzelne Bausteine (Spiel, Bilder, Tonspur), trübt das Setting kräftig mit Nebelschwaden ein und lässt fürs Gefühl auch viel Musik spielen (verantwortet von Paul Wallfisch). Das ist als Grundkonzept interessant, hält aber in der Praxis über einen mehr als zweistündigen Abend nicht stand. Die Livefotos bergen gewiss ihre Spannung, weil sie aus der unberechenbaren Sekunde geboren werden. Doch können sie das damit absorbierte Spiel nicht zufriedenstellend kompensieren.

Schon nach wenigen Szenen gleichen die Bilder einander weitgehend: Nan-Goldin-hafte Aufnahmen verletzter Party-People in zerrissener Kleidung und mit kaputter Schminke.

Voges-Double

Dem Manko an "Spielfleisch" versucht Voges vorn an der Rampe etwas entgegenzuhalten. Der Theaterdirektor aus dem dem Faust-Drama vorangestellten "Vorspiel" soll als Kay-Voges-Double für Stimmung sorgen. Einmal, als Gretchens Bruder stirbt, eilt er (Uwe Schmieder) vom seitlichen Bühnenrand als Kunstblutlieferant herbei.

Ein andermal wird die Szene des gramvoll singenden Gretchens (Hasti Molavian) am Spinnrad (Der König in Thule) zu einer Vorsprechszene am Theater umfunktioniert, in der der Direktor die Rollenanwärterin bis zur Verzweiflung triezt, um am Ende ein schönes Foto einer weinenden Frau zu erhalten. Einen kritisch gemeinten Kommentar zum Machtmissbrauch am Theater hat man selten unbedarfter inszeniert gesehen.

Faszinosum Echtzeit

Verweile doch, du bist so schön? Nun ja, am Ende erweist sich diese ins Reich der Fotografie verfrachtete philosophische Erörterung als wenig ergiebig. Der ästhetische Mehrwert des Abends bleibt ebenso überschaubar, auch wenn die immer noch neue Technik des Volkstheaters nach wie vor beeindruckt. Dass Schnappschüsse ins Publikum in Echtzeit auf der riesigen Leinwand aufscheinen, wird das größte Faszinosum des Abends bleiben (für Fachleute: mit einer sehr hohen Lichtempfindlichkeit von 12800 ISO). Bitte lächeln! Man hat nur eine Chance.

Das derzeit mit Zuwendung und Auszeichnungen verwöhnte Volkstheater – es hat beim diesjährigen Berliner Theatertreffen abgeräumt – wird sich auf diesem Faust nicht ausruhen können. Den Versuch war es wert. Weniger (Ebenen) wäre aber mehr gewesen. (Margarete Affenzeller, 25.9.2022)