Bariton Florian Boesch und Altistin Tanja Ariane Baumgartner in "Von der Liebe Tod".

Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

So verneigt sich also die Wiener Staatsoper vor Gustav Mahler, indem sie zwei seiner Werke zu einer Oper zusammenspekuliert, welche der legendäre Staatsoperndirektor (er hatte zehn aufreibende Jahre) nie geschrieben hat. Der geniale Erschaffer symphonischer Welten (sein Amtsantritt jährt sich heuer zum 125. Mal) kam ja über fragmentierte Jugendversuche wie "Die Argonauten" und "Rübezahl" nicht hinaus.

Sein Opus 1, "Das klagende Lied", und die dieser Produktion hinzugesellten "Kindertotenlieder" wurden nun unter dem Titel "Von der Liebe Tod" nicht einfach bieder aneinandergeschweißt. Sie werden zu einer Art Endzeitdrama geformt, über dem – so das Konzept – die mutmaßlich verhängnisvolle Abhängigkeit des Menschen von digitalen Realitäten schwebt. Regisseur Calixto Bieito zeigt den Chor denn auch als Masse, die in einer artifiziellen Sphäre eingekerkert ist.

Rituelle Handlungen

Die andere Ebene, das im "Klagenden Lied" erzählte Märchen, wird dabei an Solisten und Solistinnen delegiert, deren Aktionen vom Chor vervielfacht werden, was die szenische Imposanz befördert. Die Stärke der Produktion: Bieito drängt die Protagonisten zur Unmittelbarkeit, lässt sie in rituelle Handlungen eintauchen und Fragmente einer verlorenen Natur bewundernd entdecken. Die Geschichte der Königin, die nur jenen ehelicht, der ihr mit einer speziellen roten Blume den Hof macht, ist im Detail eindringlich erzählt. Die Geschichte ist mörderisch und gar nicht harmlos: Einer findet die besagte Blume, sein Bruder aber tötet ihn. Aufgedeckt wird der mörderische Betrug durch eine aus einem Knochen bestehende Flöte, welche die Mordgeschichte besingt (mit den markanten Stimmen von Johannes Pietsch und Jonathan Mertl) und welche den falschen Bräutigam entlarvt.

Körperbetonte Aktionen

Bieito verstrickt die Individuen in körperbetonte Aktionen: Bruder (Florian Boesch) erwürgt Bruder (Daniel Jenz), eine Frau schlägt auf einen Mann ein, ringt mit ihm, nachdem sie sich den Mund blutig gebissen hat. Wildes Leben, und die Knochenflöte wird aus dem abgetrennten Arm eines Knaben filetiert. Dieser drastischen Archaik steht in einem hellen leeren Raum ein herabragender Kabelbaum als Kontrast gegenüber (Bühnenbild: Rebecca Ringst), der die junkiemäßige Abhängigkeit der Individuen von virtuelle Welt zeigen soll.

Nicht nur, wer einst die drei Teile des einer verwandten Thematik gewidmeten Filmblockbusters "Matrix" gesehen hat, wird allerdings enttäuscht. Hier ist die Regie irgendwie falsch abgebogen, sie landet – statt in einer das Virtuelle adäquat gestalteten Sphäre – in einer albernen Anweisung an den Chor, mit den Kabeln zu kuscheln oder zu tanzen … Die Beschäftigungstherapie ist eine rätselhafte Verlegenheitslösung, seine konzeptuell reizvolle Idee hat Bieito mit dem engagierten Staatsopernchor und dem Kabelsalat nicht in eine adäquate Umsetzung überführen können.

Starke Stimmen

Regelrecht erleichtert ist man insofern, als danach bei den "Kindertotenliedern" wieder in reduzierter Form szenische Dichte dominiert, die zeigt, dass wenig nötig ist, um Eindringliches zu bewirken. Es bedarf etwa nur eines Singschauspielers wie Florian Boesch, der zwischen expressiven Momenten schließlich auch liedhafte Intimität erreicht, bevor er mit Tanja Ariane Baumgartner still davongeht, die bei den "Kindertotenliedern" klangschön und hingebungsvoll, aber bisweilen etwas "kurzatmig" gestaltet.

Im "Klagenden Lied" vokal stark ist vor allem auch Sopranistin Vera-Lotte Boecker, die im Nahkampf mit Boesch verstrickt ist. Kultiviert auch Tenor Daniel Jenz, der im zweite Teil als totes Opfer Zeuge von Trauer, Verlust und Verwüstung ist. Jenz hängt quasi an jenen Seilen, die zuvor den Kabelbaum getragen haben und der nun am Boden als Müll herumliegt.

Klanglich-herbe Raffinesse

Jener finale musikalische Orchesterschlag, mit dem Mahler das "Klagende Lied" beendet hat, zeigt in seiner Wucht, was schon zuvor hörbar wurde: Dirigent Lorenzo Viotti animiert das Staatsopernorchester, dessen vielfach erprobte Mahler-Kompetenz zwischen drastischem Akzent, klanglich-herber Raffinesse und Poesie zu aktivieren. Da sind behutsame Detailarbeit, aber auch bei Bedarf heftige Akzente im Sinne eines essenziellen Ausdrucks abseits aller Unverbindlichkeit und falscher Süße.

In Summe ein interessantes, sinnvolles Experiment, dessen szenische Umsetzung allerdings leider nur im Individuellen überzeugt und sich im Kabelsalat verstrickt.

Es wurde geklatscht und gebuht und gejubelt. Es hätte schlimmer kommen können. (Ljubisa Tosic, 30.9.2022)