Moralisierende Belehrungen verkennen die Gefahr, sagt der Bildungswissenschafter und Psychoanalytiker Josef Christian Aigner im Gastkommentar.

Ein Aktivist der "Letzten Generation" bei einer Verkehrsblockade vergangenen Montag in Graz.
Foto: Alexander Danner

Allerorten befleißigt man sich in Kommentaren, die radikalen Klimawandelaktionen, wie Festkleben im Verkehr oder Kunstwerke zu beflecken (eh nicht zu beschädigen!), zu verurteilen, weil sie entweder die Leute bös’ machen oder weil kein Zusammenhang zum Klimathema und der Erderwärmung bestehe. Manche sehen gar den Rechtsstaat in Gefahr, weil sich solche Aktionen über Erlaubtes hinwegsetzen. Haben die keine andere Sorge um den Rechtsstaat? Und was ist mit der Moral?

Wenn wir den Spagat zwischen Strafrecht und politischer Moral, der in der Diskussion um mutmaßlich korrupte Politik immer zugunsten des Strafrechts als rote Linie ausfällt, auf radikale Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten anwenden, so kann es zwar "verboten" und strafbar sein, am Wiener Ring zur Stoßzeit den Verkehr zu behindern – aber ist es nicht angesichts der drohenden Klimakatastrophen moralisch durchaus gerechtfertigt, mit aufsehenerregenden Mitteln auf die halbherzigen oder gar fehlenden Maßnahmen der Herrschenden hinzuweisen?

Kein Entweder-oder

Auch das "Gewalt"-Argument hört man öfter – was denn nach dem Festkleben noch alles kommen könnte? In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Studentenführer Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke in den 1970er-Jahren in der ORF-Diskussionssendung Club 2, die deutlich machten, dass sie nicht aus Spaß Schaufenster von Luxusgeschäften einschlügen, sondern weil sie sonst niemand ernst nimmt. Ob das nicht auch heute noch gilt? Es geht auch nicht um ein Entweder-oder, also Fridays for Future hier, radikale Aktionen dort, sondern es geht angesichts der katastrophalen Faktenlage darum, alle Register zu ziehen, die die Politik dazu auffordern, ja vielleicht einmal zwingen, endlich konsequent gegen den drohenden Klimakollaps zu handeln.

Denn auch dieses Nichthandeln, die anhaltende, ökologisch verantwortungslose Rücksicht auf "die Wirtschaft", das einfallslose Festhalten an bisherigen Produktions- und Distributionsweisen, die den Globus weiter schädigen, sind Formen von Gewalt, viel schwerwiegendere als die der paar Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten, die – Gott sei Dank – damit Schlagzeilen machen. Wer die Berichte von der südlichen Halbkugel über die extreme Dürre und die damit zusammenhängenden Hungerepidemien sieht, die von den reichsten Industrienationen mitverursacht werden, weiß, wovon ich rede: Wo sind die Verantwortlichen, die nicht bereit sind, hier langfristige Konsequenzen zu ziehen und die Prinzipien globalen kapitalistischen Wirtschaftens ernsthaft zu hinterfragen? Die stattdessen den massenhaften Tod von Menschen im Globalen Süden in Kauf nehmen? Strafrecht? Nein: Solcherart strukturelle Gewalt ist nicht strafbar – hier geht es ausschließlich um politische Moral, die den allermeisten nicht bewusst oder einfach nicht Gegenstand der Debatten ist.

Beispiel Tirol

In regionaler Hinsicht frage ich mich als Tirol-Bewohner zum Beispiel, welche Verantwortlichen den kaum mehr erträglichen täglichen Fernverkehr über den Brenner verursachen, wo von Kufstein oder gar Rosenheim weg Lkw an Lkw bis nach Bozen im Stau steht. Welche "klugen Köpfe" sind hier am Werk, die der anwohnenden Bevölkerung, den Fahrerinnen und Fahrern, der Luftqualität diese Gewalt (!) zumuten und keine andere Logistik finden, diesen Irrsinn zu stoppen? Und wo sind die führenden Köpfe in der Wirtschaft, die die Chancen der Pandemie und auch der kriegsbedingten Energiesparzwänge nutzten, um anderen, schonenden Arten des Wirtschaftens und Konsumierens, des vielgepriesenen "Wohlstandserhalts" das Wort zu reden?

"Alle Register müssen gezogen werden."

Als nahezu Siebzigjähriger ertappe ich mich, hier offenbar radikaler zu sein als manche junge Fridays-for-Future-Aktivistin, die auf Bewusstmachung und Einsicht allein setzt. Wie gesagt: Alle Register müssen gezogen werden – und ich habe großen Respekt vor Greta Thunberg und den jungen Menschen in ihrem Gefolge. Aber wir werden – ähnlich wie beim Umbau der schlimmsten autoritären Verhältnisse in den 1960ern und 1970ern – mehr brauchen, um die Mächtigen zum Innehalten zu zwingen: Und all das wird wie damals außerhalb bürgerlicher Wohlanständigkeit und auch außerhalb der Parlamente passieren müssen, in denen selbst Grüne als bisher in Umweltfragen ernsthaft Engagierte in koalitionären Sachzwängen untergehen; man nehme nur Ministerin Leonore Gewesslers Umfaller bei Tempo 100.

Es wird also eine "Öko-Apo", eine "Ökologische außerparlamentarische Opposition", brauchen, die sich nicht scheut, zivilen Ungehorsam gegen diese Zukunftsblindheit, gegen namhafte Umweltsünder, gegen politische Akteure, die sich als besondere Bremser erweisen, und andere mehr zu üben. Ohne Gewalt gegen Menschen freilich.

Ein bisschen Verkehrsstau ist ein Klacks gegen das, was uns bei weiterer Untätigkeit und Halbherzigkeit der Politik erwartet."

Auch zur Zeit der klassischen "Apo" standen die Massen übrigens nicht hinter der Protestbewegung, auch damals hat man sie als Revoluzzer und Chaoten beschimpft. Und dennoch haben sie langsam, aber sicher viel weitergebracht. Es läge auch an einzelnen Politikerinnen und Politikern, in inhaltlicher Solidarität den erbosten, im Stau stehenden Autofahrerinnen und Autofahrern zu erklären, was hier passiert und dass ein bisschen Verkehrsstau ein Klacks gegen das ist, was uns bei weiterer Untätigkeit und Halbherzigkeit der Politik erwartet. Das traut sich nun wegen der Wählerstimmen wieder niemand: ein weiterer Grund für eine "Öko-Apo". Wenn es darin eine Großelternfraktion gibt, bin ich dabei! (Josef Christian Aigner, 9.11.2022)