In der Familienhölle: Johannes Krisch vor dem Porträt von Schauspielerin Ilse Ritter.

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Das Theater ist ein Museum. An diesem Abend ist das wörtlich zu verstehen. An den bordeauxroten Wänden hängen Porträts der Schauspieler Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss, daneben prangt jeweils eine Infoplakette. Eine Leuchttafel weist den Weg zum Ausgang. Kurz vor Ende des knapp dreistündigen Abends wird ein Wärter verkünden, dass das Museum bald schließe.

36 Jahre nach der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen wird Ritter, Dene, Voss jetzt erstmals an der Josefstadt gegeben – und das, obwohl das plüschige Theateretablissement in Thomas Bernhards Stück eine zentrale Rolle spielt. Die beiden weiblichen Darstellerinnen spielen seit Jahrzehnten im Josefstadt-Ensemble, der verstorbene Vater hatte sich einst die Mehrheit am Theater gesichert. "Die Theaterkunst ist nur da unabhängig, wo sie einundfünfzig Prozent Anteil besitzt", wird die jüngere der beiden Schwestern sagen. Gemeinsam warten sie im ersten Akt auf das Abendessen mit ihrem Bruder, der gerade aus der psychiatrischen Anstalt in Steinhof in die mondäne Cottage-Villa zurückgekehrt ist – in eine Familienhölle, in der wie unter einem Glassturz ein Bernhard’sches Figurentrio haust: großbürgerliche Rappelköpfe, miesepetrige Neurotikerinnen, sich selbst zerfleischende Schimpfdrosseln.

Familienaufstellung in der Josefstadt
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Mit den titelgebenden Schauspielerinnen und Schauspielern haben Ludwig und seine beiden Schwestern nichts zu tun, der Name des Stücks war seinerzeit als Referenz an die Uraufführungsbesetzung gedacht. Ritter, Dene und Voss haben die Inszenierung für viele, viele Jahre an der Wiener Burg und noch viel später am Berliner Ensemble gegeben.

Der Erfolg von Claus Peymanns Inszenierung ist wohl auch der Grund, warum andere Theater bis heute gerne die Finger davon lassen. In der Josefstadt tritt man dagegen die Flucht nach vorne an: Das Bühnenbild von Florian Parbs zitiert die einstige Inszenierung, im Programmheft spricht man gar von einem "Reenactment eines theaterhistorischen Ereignisses". Davon ist die von Peter Wittenberg verantwortete Inszenierung dann aber doch etwas entfernt, und das hat, wie sollte es anders sein, mit den Protagonisten dieses Wiederbelebungsversuchs zu tun. Statt der Familienmitglieder, wie in Bernhards Stückvorlage, blicken die einstigen Schauspielgrößen auf die lackschwarzen Jugendstilmöbel und das viele zerbrochene Geschirr.

Im Angesicht der Giganten

Für Sandra Cervik, Maria Köstlinger und Johannes Krisch bedeutet das, dass sie sich an diesen einstigen Giganten der Schauspielkunst messen lassen – oder zumindest gegen die nostalgietrüben Erinnerungen an den einstigen Abend anspielen müssen.

Damit tut sich vor allem Sandra Cervik schwer, die mütterliche der beiden Schwestern. Beherzt kippt sie die dicke selbstgemachte Sauce auf das Fleischstück des Bruders, während dieser sie argwöhnisch beobachtet. Fürsorge und Bevormundung liegen eng beieinander, noch komplizierter wird es aber, wenn sich da auch noch die Libido einmischt. Sexuelle Untertöne sind bei Thomas Bernhard äußerst rar, in Ritter, Dene, Voss blitzen sie im Verhältnis von Ludwig zu seiner älteren Schwester immer wieder auf. Die Beziehung zur jüngeren Schwester ist da einfacher gestrickt, sie ist gleichermaßen Verbündete wie Antagonistin eines Bruders, dem Bernhard die Geistesschärfe von Ludwig und die Geistesunschärfe von Neffe Paul Wittgenstein verpasst hat. Für Johannes Krisch bedeutet das einen schauspielerischen Balanceakt zwischen Kinds- und Rappelkopf, wobei sich Letzterer immer stärker Bahn bricht.

In weitem Bogen spuckt er die Brandteigkrapfen über den Tisch, nachdem ihm die Schwester einen Besuch bei Dr. Frege angekündigt hat. Beim Hausarzt wohlgemerkt, nicht beim Logiker gleichen Namens. Immer mehr verheddert sich Krisch in seinem Wahn – Gert Voss blitzt genauso durch wie Bernhard Minetti. Im Finale verdichtet sich das Spiel schließlich so stark, dass die Vorlage endlich etwas in den Hintergrund gerät. Dennoch würde man das nächste Mal wieder lieber ins Theater und nicht ins Museum gehen. (Stephan Hilpold, 19.11.2022)