Heimparty in den 70ern: Mrs. Smith (Beatrice Frey) und ihre Gäste (Frieder Langenberger und Evamaria Salcher) in "Die kahle Sängerin" am Grazer Schauspielhaus.

Foto: Lex Karelly

Mit und ohne Hackebeil ein poetischer Kracher: Hausangestellte Mary (Katrija Lehmann) in "Die kahle Sängerin".

Foto: Lex Karelly

Schon der erste Blick ist vielversprechend. Und die Erwartung an diesen 90-minütigen Abend wird bis zu seinem Ende hin nicht enttäuscht. Einerseits wecken die Lorbeeren der frisch gekürten Nestroy-Preisträgerin und Regisseurin Anita Vulesica ("beste Bundesländeraufführung") die Neugier, zum anderen treffen Theaterstoffe des Absurden offenkundig den Nerv der Zeit. Anti-Logik, Widersprüchlichkeit und feierliche Dysfunktionalität in Eugène Ionescos Die kahle Sängerin gehen im Schauspielhaus Graz jedenfalls wie balsamischer Sprühregen hernieder.

Glücklicher kann ein Publikum nicht sein, als wenn auf der Bühne der mächtige Uhrzeiger 17 Uhr 51 anzeigt und Mrs. Smith freudig feststellt: "Sieh mal an, es ist neun Uhr!"

Wohin man auf Henrike Engels Bühne auch blickt, überall verweist schwerer roter Plüsch auf prächtige Theatralik, in der jedes Dekagramm an Geste schwer wiegt, jeder schiefe Mund, jeder Ton und jedes einzelne der insgesamt fünf Utensilien: Teppichklopfer, Staubwedel, Whiskyflasche, Küchenbeil und die eine oder andere dampfende Zigarette.

Grandezza

Das Ehepaar Mr. und Mrs. Smith (Beatrice Frey, Moritz Grove) verbringt den Abend auf dem Sofa in großer Robe, aber mit belanglosen Gesprächen, empfängt dann überraschend das Ehepaar Martin (Frieder Langenberger, Evamaria Salcher), welches sich allerdings erst kennenlernen muss. Ein Arbeit suchender Feuerwehrhauptmann (Raphael Muff) stößt ebenfalls dazu. Und um sie und ihre pointenlosen Dialoge herum zieht die Dienstbotin mit Jack-Sparrow-Note (Katrija Lehmann) ihre furchterregenden Kreise. Bis hin zu jenem Punkt, an dem es zwar folgerichtig kein sinnfälliges Ende gibt, aber doch ein Abend mit Grandezza, Liebesparolen und Transparenten der Zuversicht zu Ende geht.

Für dieses Werk gepflegter Irrationalität, in dem sich robuste Figuren mit dem Unerklärlichen anfreunden und den Paradoxien ihrer Existenz freien Lauf lassen, für eine Inszenierung, die den widersprüchlichen Zusammenhängen den gedeihlichsten Raum gibt, dafür gab es schließlich stehende Ovationen.

Quietschendes Kleid

Kostümtechnisch in das schillernde Jahrzehnt der 1970er und seiner bürgerlichen Heimpartys verlegt, erleben hochtoupierte Frisuren, Rüschenhemden und Glitzerjumpsuits, Zeichen des fortschrittlichen Konformismus, ihre blauen Turnwunder (Kostüme: Janina Brinkmann). Auf einem mehrfach geschwungenen, langen Lounge-Sofa suchen die Eheleute auch noch in den kleinsten Nischen nach Heimeligkeit.

Mrs. Smith (Frey) schrubbt an einem vermeintlichen Fleck ihres Polyesterkleides, dass es nur so quietscht. Mr. Smith (Grove) blättert im Magazin für Bassgitarren, woraus er Todesnachrichten liest von Menschen, die bereits vor vier Jahren dahingeschieden sind, die aber nichtsdestotrotz im nächsten Frühjahr zu heiraten beabsichtigen. Ionesco, danke!

18.000 Vorstellungen

Als hätte sie zu viel "Ministry of Silly Walks" (Monty Python) geschaut, macht sich die Hausangestellte (Lehmann) vom Kabäuschen ihrer Plattformtreppe regelmäßig mit nach vor oder auch weit zurück gebeugtem Rücken und mit immer neuen Requisiten auf und herab in die seltsame Wohnzimmerlandschaft, von der man dem begleitenden Sound (Camill Jammal) zufolge denken muss, dies alles finde in Wahrheit im tiefen Bauch eines Containerschiffes statt.

Beweise dafür gibt es keine, aber schon Ionesco hat durchaus Varianten für sein 1950 uraufgeführtes Stück in Erwägung gezogen, Titel und Enden mehrfach geändert. Das Schauspielhaus Graz wird nicht jene rekordverdächtigen 18.000 Vorstellungen spielen können, die das Théâtre de la Huchette in Paris seit über sechzig Jahren nonstop gibt, aber diese Kahle Sängerin könnte Intendantin Iris Laufenberg, bevor sie nächste Spielzeit ans Deutsche Theater Berlin wechselt, einen Publikumshit bescheren. (Margarete Affenzeller, 20.11.2022)