Der Autor, Herausgeber und Essayist Hans Magnus Enzensberger.

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Wenn sich das Modell des französischen Citoyens und Aufklärers jemals in Deutschland verkörpert hat, so in der Person Hans Magnus Enzensbergers. Als dieser Götterliebling 1957, mit gerade einmal 28 Jahren, die Bühne der deutschen Öffentlichkeit betrat, machte er sofort auf sich aufmerksam: Seine Gedichte ("Verteidigung der Wölfe") waren so schlagfertig, dabei so entfettet und verstandesklar wie allenfalls diejenigen von Bertolt Brecht.

Mit seinen Essays ("Einzelheiten", 1962) betrieb er von Anfang an Ideologiekritik: Enzensberger knöpfte, indem er bevorzugt Alltagserscheinungen in den Blick nahm, den deutschen Studienräten den obersten Hemdknopf auf. Und so vertrieb er, indem er mit seinem Dichten und Denken von früh an Schule machte, den Heidegger'schen Existenzmief aus allen Debattierstuben und Redaktionen.

An Steinen des Anstoßes, an gesellschaftlich Kritikwürdigem hat es diesem Anwalt der Vernunft, einem Aufklärer aus dem Geist Diderots, niemals gefehlt. Enzensberger, der Heidegger als Student in Freiburg noch selbst lesen gehört hatte, konnte sich in die Avantgarde verbeißen und deren Pathos überzeugend herabwürdigen. Nicht minder anstößig erschien ihm auch der Neckermann-Katalog: Für ein paar Jahre, die weit über 1968 hinausreichten, schien der Zeitgeist mit dem Weltgeist ein Stück weit identisch zu sein. Und beide hatten in Enzensberger – mindestens zeitweilig – ihre überzeugendste bundesdeutsche Verkörperung gefunden.

Querulant und Enzyklopädist

Schon als Hitlerjunge soll Enzensberger, Sohn eines Nürnberger Postdirektors, als Querulant hervorgetreten sein. Den Lebensweg des jungen Intellektuellen aus Kaufbeuren kann man getrost bewegt nennen: Schon 1963, also 33-jährig, erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Der Autor nahm an Tagungen der Gruppe 47 teil, verbrachte Zeit in Norwegen und Kuba – und gab schließlich von 1965 bis 1975, als ebenso getreuer wie kritischer Begleiter der Studentenbewegung, das "Kursbuch" heraus. Er selbst zog es, trotz gehörigen Unmuts vieler Linker, stets vor, anstatt mit Bekenntnissen lieber mit stichhaltigen Argumenten um sich zu werfen: "Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit."

Enzensberger blieben die Aporien des Fortschritts eben zeitlebens nicht verborgen. Er sammelte die Verteidigungsreden angeklagter Revolutionäre ("Freisprüche", 1970), eben um in Zeiten revolutionären Überschwangs die Defensive nicht zu vernachlässigen. Er malte den "Untergang der Titanic" (1978) in faszinierenden Versen aus und würdigte, nicht ohne einen Anflug leiser Melancholie, den kurzen Sommer der Anarchie im Bürgerkriegsspanien. Kleinlaut ist Enzensberger darüber nie geworden. Eher schon fällt die Ideengeschichte der Bundesrepublik Deutschland mit den Volten zusammen, die das Leben dieses Enzyklopädisten (im Geiste d'Alemberts) schlug.

Intellektueller Spieler

Man nannte ihn wahlweise Hansdampf, einen Bruder Leichtfuß oder glaubte, ihn als notorisch unzuverlässig verunglimpfen zu müssen. Nicht immer, aber doch meistens war H. M. Enzensberger seinen Kritikern um Meilen voraus. Bestimmt nicht, als er Saddam Hussein mit Hitler verglich. Indes wurde sein legendäres Hakenschlagen allmählich als Folgeerscheinung einer immensen Produktivität verstanden: als Ausdruck einer romantischen, in Maßen auch postmodernen Ironie. Diese mag Enzensberger nicht immer vor Fehleinschätzungen bewahrt haben.

Fortdauern wird das Bild eines intellektuellen Spielers: ausgestattet mit untrüglichem moralischem Kompass. Enzensberger entwarf die Konturen eines Weltbürgerkriegs, lange ehe Modefeuilletonisten glaubten, eine "Spaltung" der Gesellschaft herbeireden zu müssen. Dieser Homme de lettres verstand es meisterhaft, in "Diderots Schatten" (1994) anmutig zu tänzeln. Und er schrieb Verse, deren heilignüchterne Klarheit noch kommenden Generationen als Vorbild dienen wird: "Die weiße Kreide, in meiner Hand, / meine Herren, besteht, / wie Sie wissen, aus Molekülen."

Hans Magnus Enzensberger warnte vor der Allianz von Konzernen und Nachrichtendiensten und bezeichnete Edward Snowden als Helden des 21. Jahrhunderts. Als zeitweiliger Mitherausgeber der "Anderen Bibliothek" vermittelte er allen deutschsprachigen Lesern einen Eindruck davon, was man lesen (können) muss, um für die eigene Mündigkeit als Staatsbürger und dessen Kultivierung zu sorgen. Jetzt ist Enzensberger 93-jährig in München gestorben. (Ronald Pohl, 25.11.2022)