In ihrer Heimat spielt Oper kaum eine Rolle, in Wien dafür eine umso größere – ungewöhnlich für Lotte de Beer.

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Das Haus galt viele Jahre lang als verstaubt. Seitdem die Niederländerin Lotte de Beer ihre Intendanz angetreten hat, weht ein frischer Wind durch die Wiener Volksoper. Zum Einstand im September trat der deutsche Entertainer Harald Schmidt in einer Operette auf, am Sonntag hat Brechts Dreigroschenoper in einer mehr als ungewöhnlichen Besetzung Premiere. Lotte de Beer wirbelt in ihrer unbekümmerten Art allerdings nicht nur die Volksoper durcheinander, die gesamte Wiener Opernlandschaft befindet sich derzeit in einer Art Aufbruchsstimmung. Die Videofassung dieses StandART-Gesprächs gibt’s hier.

STANDARD: Ihre Intendanz ist im September losgegangen. Bisher hört man kaum Negatives. In einer Stadt wie Wien ist das ungewöhnlich …

De Beer: … ich dachte zuerst, das kommt nur daher, weil ich wie Pippi Langstrumpf nichts Negatives hören will. Aber es läuft einfach gut.

STANDARD: Im Vorfeld gab es Aufregung, weil Sie Verträge nicht verlängert haben. Sind Sie jetzt vorsichtiger?

De Beer: Nein. Ich war zugegebenermaßen beeindruckt von der Vielzahl der Reaktionen. Meine Interpretation war aber: In dieser Stadt spielt die Oper im Leben vieler Menschen eine emotionale Rolle. In Holland, wo ich herkomme, weiß man teilweise nicht einmal, dass es ein Opernhaus gibt. Da ist mir eine Situation wie in Wien doch lieber.

STANDARD: Mit dieser Saison werden die Wiener Opernhäuser von drei ambitionierten, aber ähnlich ausgerichteten Intendanten geleitet: Stefan Herheim im Theater an der Wien, Bogdan Roščić an der Staatsoper und Sie hier an der Volksoper. Ein Machtkampf?

De Beer: Die Beziehungen sind gut, wir sprechen viel miteinander und schauen uns auch die Vorstellungen der anderen an. Eine Stadt wie Wien hat genügend Raum für drei sehr unterschiedliche Häuser. Es stimmt, wir drei schauen alle nach vorn, aber wir haben alle drei ein klares Profil und auch eine klare Aufgabe. So viele Überschneidungen sehe ich nicht.

STANDARD: Am Wochenende zeigen Sie Brechts "Dreigroschenoper", die gerade erst in den Kammerspielen Premiere hatte. Die Absprachen scheinen nicht wirklich zu klappen.

De Beer: Ein solch berühmtes Stück verträgt viele Interpretationen. Unsere ist komplett anders als jene der Josefstadt, Mackie Messer wird von einer Frau, von Sona MacDonald gespielt. Auch sonst wird es einige Geschlechterwechsel geben, das führt zu einem Brecht’schen Verfremdungseffekt.

STANDARD: Das Publikum strömt derzeit nicht in Scharen. Besteht nicht gerade deshalb auch die Gefahr, dass man sich gegenseitig kannibalisiert?

De Beer: Der September war für alle Theater hart, weil viele Plätze leer geblieben sind. Mittlerweile sind wir bei einer Auslastung von 77 Prozent, gehen Richtung Normalität. Schuhläden sind in einer Einkaufsstraße auch oft nahe beieinander, wenn man Schuhe braucht, muss man da hin. So soll es mit Oper auch sein: Dafür muss man nach Wien.

STANDARD: Das heißt: Konkurrenz belebt das Geschäft, und der Bessere kriegt das Publikum. Widerspricht das nicht Ihrem Auftrag?

De Beer: So habe ich es nicht gesagt. Schauen wir doch darauf, was die Volksoper kann: Wir sind ein niederschwelliges Haus mit vier Sparten und vielen Künstlern, die sich zwischen den Genres bewegen. Es ist doch toll, dass die Volksoper in dieser Stadt nicht alleine dasteht, Wagner macht die Staatsoper, die großen Stars sind auch dort, die unbekannte Barockoper wird man am Theater an der Wien sehen, bei uns Operetten. Das gibt uns die Freiheit, das zu sein, was wir sein wollen.

STANDARD: Es gibt wenige Genres, die so verstaubt sind wie die Operette. Wie kriegt man sie zeitgemäßer?

De Beer: Das geht auf 1000 verschiedene Weisen. In unserer ersten Spielzeit zeigen wir sehr unterschiedliche Operetten, interpretiert von ganz unterschiedlichen Künstlern. Von einer stark politischen Zugangsweise wie in unserer Eröffnungspremiere Die Dubarry oder einer stark komödiantischen wie jener der Spymonkeys bei Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Und wir bringen sogar eine Operettenuraufführung: Die letzte Verschwörung von Moritz Eggert über alle Verschwörungstheorien der letzten 20 Jahre. Das ist alles andere als verstaubt.

STANDARD: Viele unterschiedliche Regiezugänge also. Unlängst hat der Musikchef der Staatsoper, Philippe Jordan, über Opernregie als Problemfall gesprochen. Sie scheinen damit kein Problem zu haben, oder?

De Beer: Ich habe erlebt, wie sich Dirigenten gegen meine Inszenierung gestellt haben, aber viel öfters habe ich mit Kollegen gearbeitet, wo Musik und Regie Hand in Hand gingen. Herr Jordan hat vor allem an großen Starhäusern gearbeitet, da hat sich eine Tradition breitgemacht, dass jeder für sich arbeitet, wenig Zusammenarbeit herrscht. Ich komme von anderen Häusern, von einer anderen Tradition.

STANDARD: Jordan sprach von schlecht vorbereiteten Regisseuren. Ist das ein tatsächliches Problem?

De Beer: Also ich war immer gut vorbereitet als Regisseurin. (lacht) Aber klar: Auch ich kenne Geschichten von Kollegen, die mit einem Reclamheft in der Hand kamen und dachten, in den kommenden acht Wochen entwickle man zusammen ein Konzept. Das geht in der Oper nicht. Dieses Genre ist so komplex, die Rolle der Musik ist so tragend, Kreativität ist im Vorfeld gefragt, die Vorbereitung muss sehr präzise sein. Wenn ein Regisseur glaubt, das auf den Proben nachholen zu können, hat er oder sie verloren.

STANDARD: Sie sind mit dem Regietheater sozialisiert worden, gegen das Sie sich immer wieder dezidiert aussprechen. Warum eigentlich?

De Beer: Ich bin nicht gegen Regietheater, das war einmal wichtig in den 1980ern und 1990ern. Irgendwann kann man Stücke aber nicht mehr weiter dekonstruieren. Kunst muss mit ihrer Zeit gehen, das Regietheater hat neue Wege geöffnet, aber es darf nicht zum Dogma werden, Regisseure dürfen nicht stehenbleiben. Heute kann man tausende unterschiedliche Regiewege gehen, auch dank des Regietheaters, das verkrustete Strukturen aufgebrochen hat. Ich mache lieber Verführungstheater. Entertainment und Kunst müssen zusammengehen.

STANDARD: Ist die Volksoper deswegen neuerdings rosa angepinselt?

De Beer: Ein Opernhaus muss ein Märchenschloss sein, da sollen die Leute glänzende Augen bekommen. Abgesehen davon musste die Fassade sowieso neu gemacht werden.(Stephan Hilpold, 27.11.2022)