Geiger Maxim Vengerov trat im Konzerthaus auf.

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Wien – Kann man das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien ausreichend wertschätzen? Während um viel Harmonie bemühte Klangkörper dieser Stadt seit Menschengedenken gefühlt zwei Prozent des möglichen Repertoirefelds beackern (natürlich die finanziell ertragreichsten zwei Prozent), entführt das RSO Wien sein Publikum verlässlich auch in wenig bekannte Ton- und Klanglandschaften. Zum Beispiel jene von Grażyna Bacewicz. Wer, außer vielleicht die Verfasser von einschlägigen Programmheftbeiträgen, kennt die polnische Geigerin und Komponistin (1909–1969)? Unter Marin Alsops kundiger Leitung wurde im Konzerthaus ihre Musik für Streicher, Trompeten und Schlagwerk (1958) aufgeführt: ein zwanzigminütiges Werk von illustrativer Kraft und einnehmender, eigener Tonsprache. Eine bereichernde Stimme aus der nahen Vergangenheit.

Werke von Sergej Prokofjew sind im Konzertsaal grundsätzlich häufiger zu hören als jene von Bacewicz. Sein lichtes erstes Violinkonzert wird allerdings doch eher selten gespielt, am Donnerstagabend interpretierte es Maxim Vengerov. Der gebürtige Russe war in jungen Jahren eine Art Kylian Mbappé des Geigenspiels: ein Genie der robusten Art, gesegnet mit einer kraftvollen Vitalität. Mit dieser konnte auch der 48-jährige Vengerov noch aufwarten; Genieblitze, die allerletzte Präzision und filigraner Klangzauber wollten sich nicht immer einstellen. Egal: Der Publikumsliebling gab die Méditation aus Massenets Thaïs zu, was will man mehr.

Große Leidende vor dem Herrn

Vielleicht noch eine Bernstein-Symphonie? Im Rahmen der intensiven Beschäftigung mit den amerikanischen Klassikern der Moderne im Allgemeinen sowie dem Werk ihres Mentors Leonard Bernstein im Speziellen dirigierte die Chefdirigentin des Orchesters dessen erste Symphonie, Jeremiah. Die stimm- und gefühlsgewaltige Mezzosopranistin Rinat Shaham war eine große Leidende vor dem Herrn, das RSO Wien lief zur Hochform auf und überzeugte mit satter Klangkraft, Geschmeidigkeit und Sinnlichkeit. (sten, 9.12.2022)