Es handelte sich um eine der größten Hoffnungen der Grundlagenphysik. Der LHCb-Detektor, ein Experiment des größten Teilchenbeschleunigers der Welt, des Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern, meldete sonderbare Anomalien, die sich gängigen Erklärungsversuchen entzogen. Sie betreffen das wohlbekannte Elektron und seine selteneren und massiveren Partnerteilchen, das Myon und das Tauon, die zu den Leptonen gezählt werden. Diese sollten sich eigentlich, abgesehen von ihrer Masse, sehr ähnlich verhalten. Das sagt zumindest das Standardmodell der Elementarteilchenphysik voraus, die umfassendste und genaueste Theorie der bekannten Materie, zu der auch das Higgs-Teilchen gehört. Bisher hielten sich die Leptonen auch folgsam an das Regelwerk. Bis LHCb begann, Abweichungen zu registrieren. Bestimmte Mesonen, das sind kurzlebige Teilchen, die bei Teilchenkollisionen im LHC entstehen und wie Protonen und Neutronen aus Quarks bestehen, waren offenbar nicht nach den Regeln zu gleichen Anteilen in Elektron-Positron-Paare sowie in Myon-Antimyon-Paare zerfallen. Die Elektronen waren in der Überzahl, was die Leptonenneutralität verletzte.

Der ringförmige Tunnel des LHC ist zur Gänze mit supraleitenden Magnetspulen ausgelegt, die zur Beschleunigung, Fokussierung und Ablenkung des Teilchenstrahls dienen.
Foto: REUTERS/Pierre Albouy/File Photo

2014 ging man damit erstmals an die Öffentlichkeit. Als 2017 bei einer Konferenz am Cern erneut abweichende Messergebnisse präsentiert wurden, waren die Daten bereits fünf Jahre alt. Noch handle es sich um Spekulationen, hieß es damals. Um von einer Entdeckung sprechen zu können, müsse man mehr Daten sammeln. Doch eine Signifikanz von 2,5 Sigma (je höher dieser Wert ist, desto geringer ist die Irrtumswahrscheinlichkeit) ließ die Fachwelt hoffen und befeuerte Spekulationen, ein neues, kurzlebiges Teilchen könnte dahinterstecken. Später konnte die Verlässlichkeit sogar auf drei Sigma erhöht werden.

Zu viele Elektronen

Nun, nach sorgfältigen Analysen, scheint sich der in verschiedenen Experimenten und auf verschiedenen Skalen beobachtete Effekt in Luft aufzulösen, wie das Fachjournal "Nature" berichtet. Man habe einerseits weitere Messungen des LHCb-Experiments in die Analyse miteinbezogen und andererseits nach Fehlern in der bisherigen Analyse gesucht. Dabei habe man festgestellt, dass immer wieder Teilchen fälschlich als Elektronen identifiziert worden waren. Nach Einbeziehung all dieser neuen Informationen ließ sich der Effekt der Brechung der Leptoneninvarianz nicht mehr nachweisen.

Trotz entsprechender Gerüchte im Vorfeld zeigen sich Physikerinnen und Physiker wie Gino Isidori von der Universität Zürich von dem Ergebnis überrascht. Schließlich hatte es von mehreren Seiten Hinweise auf den neuen Effekt gegeben, erinnert Isidori. Die Hoffnung war also groß. Isidori dankt dem LHCb-Team für seine Offenheit, kritisiert aber, dass es so lange gedauert habe, den Fehler richtigzustellen.

Schönheit statt Hintern

Das LHCb-Experiment wurde eigentlich für einen anderen Zweck konzipiert. Es sollte den Ursprung der Materie im Universum erklären und dazu Zerfälle von B-Mesonen untersuchen, die ein Bottom-Quark und das dazugehörige Antiteilchen enthalten. Sein Name hat nichts mit dem englischen Wort für Hintern zu tun, sondern soll auf seine Partnerschaft zum "Top"-Quark hinweisen. Versuche, das Quark mit dem hässlichen Namen in "Beauty"-Quark umzubenennen, können als gescheitert angesehen werden. Insbesondere bei LHCb hatte man immer betont, das "b" stehe für "Beauty".

Die Untersuchung des Bottom-Quarks versprach besonders guten Zugang zur Brechung der sogenannten CP-Symmetrie, die dafür verantwortlich ist, dass unsere Welt aus Materie und nicht aus Antimaterie besteht. Das ist nicht selbstverständlich, weil das Universum nach dem Urknall hauptsächlich von Photonen erfüllt war und diese eigentlich in je ein Materie- und ein Antimaterieteilchen hätten zerfallen sollen, wodurch es von beiden gleich viele hätte geben sollen. Die Brechung der CP-Symmetrie sorgte für das Übergewicht an Materie, die wir heute wahrnehmen.

LHCb ist einer von vier Großdetektoren entlang des 27 Kilometer langen Beschleunigerrings des LHC.
Foto: Maximilien Brice, Julien Marius Ordan/CERN via AP

Das nun veröffentlichte Ergebnis ist ein Rückschlag für das faszinierende LHCb-Experiment, das jahrelang im Schatten der beiden Großdetektoren Atlas und CMS stand, denen die Entdeckung des Higgs-Teilchens gelungen war. Dieses Schicksal teilt LHCb übrigens mit dem Alice-Experiment, dem vierten der großen Detektoren, die sich entlang des 27 Kilometer Umfang messenden Beschleunigertunnels nahe dem Genfer See befinden. Alice ist besonders auf die Untersuchung von dichten Materiezuständen, wie sie nach dem Urknall aufgetreten sind, ausgelegt. Dazu wird der LHC statt mit Protonen mit vergleichsweise riesigen Atomkernen von Bleiatomen betrieben. Kollidieren zwei von ihnen, entsteht für sehr kurze Zeit eine heiße Masse aus Quarks, das Quark-Gluon-Plasma.

Bestätigung für strenge Qualitätskriterien

Die Entdeckung eines neuen Teilchens wäre ein Triumph für den LHCb-Detektor gewesen, in dem der größte nicht-supraleitende Magnet der Welt verbaut wurde. Die Geschichte der abgeblasenen Sensation illustriert jedenfalls gut die Sinnhaftigkeit der strengen Qualitätskriterien in der Teilchenphysik. Während in vielen Bereichen des Lebens eine Standardabweichung von drei Sigma, also eine Irrtumswahrscheinlichkeit von etwa 0,3 Prozent, als völlig unbedenklich wahrgenommen wird, verlangt die Teilchenphysik fünf Sigma, was die Wahrscheinlichkeit für einen Zufallseffekt auf weniger als eins zu drei Millionen senkt. Die Strenge der Analyse hat sich ausgezahlt, auch wenn offenbar nicht eine zufällige Häufung, sondern systematische Fehler für den Geistereffekt verantwortlich waren.

"Ich bin mir sicher, die Menschen hätten gern gesehen, dass wir eine Lücke im Standardmodell finden", sagt Chris Parkes, der Sprecher des LHCb-Experiments. Aber so sei es nun einmal, "wir machen die beste Analyse der Daten, die wir haben, und dann sehen wir, was die Natur uns gibt", sagt der Forscher. So funktioniere Wissenschaft.

Der LHCb-Sprecher Chris Parkes erklärt den Detektor.
CERN

Außerdem sind nicht alle Ungereimtheiten ausgeräumt. Einige bleiben, etwa eine nicht zu den Vorhersagen passende Masse des sogenannten W-Bosons, auf die Forschende im US-amerikanischen Fermilab im April dieses Jahres aufmerksam machten. Auch konnten nicht alle beobachteten Brechungen der Leptoneninvarianz ausgeräumt werden. Abgesehen davon sind Neutrinos in mancher Hinsicht immer noch rätselhaft.

Diese möglichen Fehler in der umfassendsten und am besten geprüften Theorie der Welt, die dem Anspruch einer alles erklärenden Weltformel bislang am nächsten kommt, sind paradoxerweise die heißeste Ware in der aktuellen Physik. Hinter jedem von ihnen könnte sich der entscheidende Hinweis verbergen, der den Schlüssel zur Erklärung der rätselhaften Dunklen Materie und Dunklen Energie liefert, die unsichtbar das Universum erfüllen. Nachdem über Jahrtausende der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte nach möglichst guten Welterklärungen gesucht wurde, ist man bei Erklärungen gelandet, die zu gut sind, um sie vernünftig weiterentwickeln zu können. Die Relativitätstheorie, das Standardmodell und die Quantenphysik, auf der Letzteres basiert, sind auf eine Art und Weise eigenständig und abgeschlossen, dass völlig unklar ist, wie sie verbessert oder gar miteinander verknüpft werden können. Die Hoffnung liegt darin, sie bei einem Fehler zu ertappen, der es erlaubt, sie zu verändern. Wieder einmal hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt.

Wer selbst sein Glück bei der Entdeckung neuer Teilchen versuchen will, kann das übrigens unter diesem Link tun, wo sämtliche Daten des LHCb-Experiments seit kurzem für die Öffentlichkeit zugänglich sind. (Reinhard Kleindl, 31.12.2022)