Derzeit kann eine "stabile europäische Ordnung nur in Opposition zu Putin und nicht in Partnerschaft mit ihm erreicht werden", sagt Mark Leonard, Direktor des European Council on Foreign Relations, im Gastkommentar.

Polen wird zunehmend zu einem "binationalen" Land. Im Bild Einreisende zu Weihnachten in Przemysl an der polnisch-ukrainischen Grenze.
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Die Ukraine beginnt das Jahr 2023 mit Rückenwind. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat sie den ersten Versuch Russlands, Kiew einzunehmen, abgewehrt, dann große Gebiete um Charkiw und Cherson zurückerobert und den Invasionstruppen schwere Verluste zugefügt. Präsident Wolodymyr Selenskyj, von "Politico" gerade zur mächtigsten Person Europas gekürt, gab sich für den Winter optimistisch und sagte voraus, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer im nächsten Jahr "Frieden" haben würden.

Doch wie der ehemalige polnische Außenminister Radek Sikorski betonte, ist ein Kompromiss, der Frieden ermöglicht, kaum vorstellbar. Wenn der russische Präsident Wladimir Putin will, dass die Ukraine "bündnisfrei" bleibt, muss er sich aus dem gesamten ukrainischen Gebiet zurückziehen und damit seine Niederlage eingestehen. Doch das wäre für ihn ein persönliches Versagen. Ebenso wird Selenskyj wohl kaum in Erwägung ziehen, ukrainisches Territorium aufzugeben, wenn der Ukraine nicht auch die Nato-Mitgliedschaft angeboten wird. Da diese Szenarien unwahrscheinlich bleiben, gibt es allen Grund, einen langwierigen Konflikt zu erwarten.

Weitere Flüchtlingswelle

Da die Aussicht auf einen russischen militärischen Sieg schwindet, konzentriert sich Putin darauf, die Einheit der westlichen Koalition zu brechen, die die Ukraine unterstützt und beliefert. Damit betreibt er einen "Omnikonflikt", der über das Schlachtfeld hinausgeht und eine mehrgleisige Offensive gegen die Europäische Union beinhaltet.

So zielen die russischen Terrortaktiken in der Ukraine, einschließlich der jüngsten anhaltenden Angriffe auf zivile Infrastrukturen wie Kraftwerke, offensichtlich darauf ab, das Leben in der Ukraine immer unerträglicher zu machen und eine weitere Flüchtlingswelle in Richtung EU-Länder auszulösen. Bereits jetzt sind 30 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer arbeitslos, und Selenskyj hat die Flüchtlinge aufgefordert, diesen Winter nicht zurückzukehren – ein unheilvolles Zeichen.

Polens "Wandel von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland wird tiefgreifende Folgen haben".

Die 14 Millionen vertriebenen Ukrainerinnen und Ukrainer stellen die größte Zahl von Flüchtlingen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dar, und die acht Millionen, die in die EU geflohen sind, lassen schon jetzt die "Flüchtlingskrise" von 2015 wie ein Vorprogramm aussehen. Die Großzügigkeit der Europäerinnen und Europäer gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen ist ermutigend. Aber wird sie von Dauer sein?

Die Zahl der Flüchtlinge in Ländern wie Polen ist so hoch, dass einige Kommentatoren es inzwischen als "binationales Land" bezeichnen. Sein Wandel von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland wird tiefgreifende Folgen haben. Polen hat bereits mehr als doppelt so viel für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgegeben wie für die militärische, finanzielle und humanitäre Ukraine-Hilfe. Und Polen ist nicht allein. Deutschland hat inzwischen mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen.

Politische Instabilität

Um die Entschlossenheit des Westens zu schwächen und auf internationaler Ebene politischen Einfluss zu gewinnen, wird Putin nicht nur die Migration als Waffe einsetzen, sondern auch die Energieversorgung und die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Düngemitteln. Darüber hinaus wird die Inflation, die eine direkte Folge von Putins Energiekrieg in Europa ist, wahrscheinlich zu politischer Instabilität in der ganzen Welt beitragen, indem sie die Situation der Volkswirtschaften, die bereits durch geringes Wachstum, Arbeitskräftemangel und die Auswirkungen der anhaltenden Handelsstreitigkeiten belastet sind, weiter verschlimmert.

Um die Auswirkungen seines Energiekriegs zu verstärken, wird Putin weiterhin Sabotageakte und Cyberangriffe einsetzen, um kritische Infrastrukturen wie Pipelines, Unterseekabel, Eisenbahnen und Kommunikationsnetze zu beschädigen. Außerdem wird er seine Bemühungen verstärken, um Einfluss zu gewinnen und westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in angespannten Regionen wie dem westlichen Balkan, dem Nahen Osten und Afrika abzulenken.

"Es herrscht große Uneinigkeit darüber, was aus den Erfolgen der Ukraine auf dem Schlachtfeld folgen soll."

Das Ziel all dieser Machenschaften ist eher politischer als wirtschaftlicher Natur. Putin glaubt, dass sein bester – und vielleicht einziger – Weg zum Sieg in der Zersplitterung des Westens liegt. Die transatlantische Einigkeit ist und bleibt entscheidend für das Überleben der Ukraine und die europäische Sicherheit im Allgemeinen. Aber sie wird zunehmend unter Druck geraten. In den Vereinigten Staaten beschweren sich politische Kräfte sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite über das unverhältnismäßig große finanzielle Engagement ihres Landes für die europäische und ukrainische Sicherheit. Außerdem herrscht große Uneinigkeit darüber, was aus den Erfolgen der Ukraine auf dem Schlachtfeld folgen soll.

Kein Trittbrettfahrer

Um dem mehrgleisigen Angriff des Kremls zu begegnen, muss die EU nicht nur ihre eigene Einheit bewahren; sie muss auch ihre Unterstützung für die Ukraine verstärken, um zu zeigen, dass Europa kein Trittbrettfahrer ist, und sie muss mit der Formulierung einer gemeinsamen langfristigen Russland-Politik beginnen. Das wird nicht einfach sein, da das Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten in dieser Frage gering ist.

Zumindest werden die westeuropäischen Länder den Traum vom Aufbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur, die Russland einschließt, aufgeben müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann eine stabile europäische Ordnung nur in Opposition zu Putin und nicht in Partnerschaft mit ihm erreicht werden. Gleichzeitig werden Frontländer wie Polen akzeptieren müssen, dass auch eine gegen Russland gerichtete europäische Sicherheitsordnung diplomatische Gesprächskanäle zu bestimmten Themen aufrechterhalten muss.

Politisches Paket

Eskalation und Diplomatie spielen beide eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Unterstützung für die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland, insbesondere in den Ländern, die sich vom Kreml weniger direkt bedroht fühlen. Die EU braucht ein umfassendes politisches Paket – von Energie und Migration bis hin zu kritischer Infrastruktur und Innenpolitik –, um sich gegen Putins Omnikonflikt zu verteidigen. Zur Bewältigung der Covid-19-Krise haben die Europäerinnen und Europäer neue Wege der Zusammenarbeit gefunden. Jetzt müssen sie dies erneut tun, um eine Herdenimmunität gegen russische Aggression, Druck und Betrug zu entwickeln. (Mark Leonard, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 3.1.2023)