"Eine Zeit der Wirren und Regierungslosigkeit könnte für Russland ein noch übleres Regime zur Folge haben als das Putin'sche", schreibt der russische Dissident und ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski in seinem neuen Buch "Wie man einen Drachen tötet – Handbuch für angehende Revolutionäre". Im Folgenden ein Auszug.

Michail Chodorkowski kämpft aus dem Exil gegen Putins Politik in der Heimat.
Foto: APA / Isabel Infantes

Wir unterschätzen oft die Trägheitskraft der Gesellschaft. Die Menschen klammern sich gern an das, was sie seit langen Jahren gewohnt sind. Die Folge ist, dass altersschwache Institutionen, die unter der Last von Korruption und Ineffektivität eigentlich von selbst zusammenbrechen sollten, weiterhin funktionieren. Das System beweist eine erstaunliche Vitalität. Wenn aber die Trägheit ausgeschöpft ist (und ewig kann sie nicht anhalten), kommt es zu einem abrupten und schwer zu steuernden Systemzusammenbruch. Je stärker die Trägheit und je länger sie dauert, desto riskanter können die Erfahrungen der Übergangsperiode sein.

Was erwartet jede provisorische Regierung, die vor der Aufgabe steht, Russland einerseits aus der Vergangenheit herauszuholen und andererseits auf die Zukunft vorzubereiten? 1. ein heftiger Anstieg der Armut bei sich verschärfendem Haushaltsdefizit und begrenzten finanziellen Manövriermöglichkeiten. 2. Verstärkung der Desintegrationsprozesse und Zunahme von separatistischen Stimmungen. 3. Sabotage und Widerstand der alten Eliten, insbesondere der Gewaltorgane. 4. Flucht des direkt oder indirekt mit dem alten Regime verbundenen Kapitals. 5. Zunahme der Kriminalität, auch wegen der beginnenden Eigentumsumverteilung. 6. eine Verschlechterung der internationalen Situation, weil die innere Schwäche unweigerlich eine Verstärkung des Drucks von außen provoziert. (...)

"Irgendwann fällt die Entscheidung, der Zivilgesellschaft Zutritt zur Politik zu gewähren."

Politik ist ein laufender Prozess. Wird dieser Prozess unterbrochen, und sei es nur für wenige Tage, ganz zu schweigen von Wochen und Monaten, dann dringt in die entstandene Lücke unweigerlich das Chaos ein. Wir sprechen hier von einer Periode von ein bis zwei Jahren. Eine Zeit der Wirren und Regierungslosigkeit könnte für Russland ein noch übleres Regime zur Folge haben als das Putin'sche. Berücksichtigt man das nicht vorher, dann kann irgendjemand die herrenlose Macht einfach in seine Hände nehmen. Ob er sie dann noch teilen will, ist die große Frage.

"Nach Putin" wieder ein Putin?

Der Ausdruck "nach Putin" ist ziemlich abstrakt. "Nach Putin" kann sowohl zu Lebzeiten Putins als auch viele Jahre nach seinem Tod bedeuten. Nicht ausgeschlossen, dass nach Putin genau so ein Putin wie er an die Macht kommt, womöglich in noch bösartigerer Ausführung. Und so kann sich das einige Male wiederholen. Das Regime der Bolschewiki, dem seine Gegner fast jedes Jahr den Sturz voraussagten, hat sich fast 70 Jahre gehalten. Eine andere Sache ist, dass dies nicht ewig so weitergehen kann. Irgendwann fällt die Entscheidung, der Zivilgesellschaft Zutritt zur Politik zu gewähren. Von da an läuft die Übergangszeit.

Der erste Akt sieht immer gleich aus. Wie aus dem Nichts entsteht eine Regierung, die mit der Demontage des alten, streng von oben nach unten errichteten Systems beginnt und das "Untere" (die Zivilgesellschaft) in den politischen Prozess einbezieht. Diese Regierung hat nicht mehr die "Legitimität der Ruhe", aber auch noch nicht die neue "Legitimität der Bewegung". Ihre Lebensdauer ist befristet, und dabei hat sie die schwerste und wichtigste Arbeit zu leisten – den Wandel unumkehrbar zu machen und das Land vor der Zerstörung zu bewahren. Ihre Mission wird erreicht sein, wenn die Regierung der neuen verfassungsmäßigen Mehrheit gebildet ist.

Demokratische Prozesse

Die historische Erfahrung, sowohl Russlands als auch anderer Länder, zeigt, dass der Vertrauensvorschuss, den die Bevölkerung den demokratischen Kräften gewährt, die mit den Reformen im Land beginnen, höchstens für zwei Jahre reicht. Danach gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder muss man abtreten, um die Macht einer neu gewählten Regierung zu übergeben (...), oder man behält die Macht mit "revolutionärer Gewalt" und gegen den Widerstand einer immer ablehnender gegenüber den Veränderungen eingestellten Masse.

Daher ist es die historische Mission der provisorischen demokratischen Regierung, die nach dem Ende des Putin-Regimes an die Macht kommt, die demokratischen Prozesse in Russland neu zu starten und alles zur Bildung einer ständigen, das heißt gesetzlich gewählten, verfassungsmäßigen Regierung vorzubereiten. Das Problem ist allerdings, dass sie diese Mission unter widrigsten Bedingungen erfüllen muss. Eine der größten Herausforderungen der Übergangszeit nach jeder Art von langer autoritärer Herrschaft ist der praktisch unvermeidliche Absturz sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik. Deshalb besteht die zweite, nicht minder wichtige Mission der provisorischen Regierung darin, das Versinken der Gesellschaft im Chaos zu verhindern.

Alte Institutionen

Mit hoher Wahrscheinlichkeit lässt sich sagen, dass keine provisorische Regierung in der Lage sein wird, hohe demokratische Standards zu gewährleisten. Mehr noch, in der Anfangszeit wird man womöglich alte dekorative Institutionen wie die Duma oder den Föderationsrat demontieren müssen. Äußerst schwierig wird die Frage der Gerichte werden, denn hier stehen zum einen Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit, zum anderen die Notwendigkeit einer radikalen Säuberung der korrupten Kader des alten Regimes und zum Dritten die Rechte der Straftäter, Verdächtigen und Opfer gegeneinander. Gleichzeitig wird die Regierung die Entwicklung hin zur Demokratie unterstützen und verhindern müssen, dass sich zeitweilige Einschränkungen verfestigen. Sie muss die Einberufung und die reale Tätigkeit der konstituierenden Versammlung, die Verabschiedung einer neuen Verfassung und die Durchführung freier Wahlen sichern.

Dieser Text ist ein Auszug aus "Wie man einen Drachen tötet – Handbuch für angehende Revolutionäre", das dieser Tage auf Deutsch im Europa-Verlag erschienen ist.
Foto: Europa-Verlag

Eine mögliche Lösung legt uns, so seltsam das erscheint, das jetzige Regime selbst nahe. In seinem Bemühen, die Macht des Führers auf ewig zu sichern, hat es ein quasi-repräsentatives Gremium erfunden und sogar in der Verfassung legalisiert: den Staatsrat. Dieses Organ war als Instrument gedacht, um jegliche Veränderungen vollkommen einzudämmen. Besetzt man es jedoch mit anderen Personen, die nach einem anderen Prinzip ausgesucht sind, wird sich der konterrevolutionäre Mechanismus in einen revolutionären verwandeln. Der Staatsrat (...) kann für eine Übergangszeit zum mäßigenden politischen Machtzentrum werden. (...)

In einer solchen Konfiguration "Provisorische Regierung-Staatsrat" muss das Machtsystem so lange arbeiten, bis die konstituierende Versammlung einberufen, ihre Tätigkeit gesichert, eine neue Verfassung und die Wahlgesetze verabschiedet und freie Wahlen zu den neuen, nunmehr verfassungsmäßigen Machtorganen abgehalten worden sind. Für all das sollten nicht mehr als zwei Jahre nötig sein. Andernfalls wird die russische Geschichte in einen neuen totalitären Zirkel eintreten. (Michail Chodorkowski, 18.2.2023)