In diesem Gastblog zeigt Robert Pichler, wie ein albanischer Nationalpark mit dem wirtschaftlichen Gefüge des Landes zusammenhängt. Dieser Beitrag ist der dritte Teil einer Reihe zur Vjosa, dem letzten Wildfluss Europas. Der erste Teil ist hier zu finden, der zweite Teil kann hier nachgelesen werden.

Die enge Verflechtung Albaniens mit "westlichen" Staaten, die einen notorischen Arbeitskräftemangel im Gesundheits- und Krankenpflegebereich, in der Gastronomie, in der Landwirtschaft und anderen Dienstleistungssektoren aufweisen, sind mit ein Grund dafür, dass das Land mit der ehemals durchschnittlich jüngsten Bevölkerung Europas mittlerweile so weit ausgedünnt ist, dass man den Arbeitskräftebedarf mit Menschen aus Ostasien zu decken versucht. Die Abwanderung, die in den 1990er-Jahren massiv eingesetzt hat, ist aber auch systemisch angelegt. So wie in vielen Regionen Südosteuropas wurden auch in Albanien Migrationsprozesse in Gang gesetzt, die eine Eigendynamik entwickelten. Aus der Abwanderung Hunderttausender in den 1990er-Jahren sind Migrationsnetzwerke entstanden, die sich seither quasi selbst perpetuieren.

Fehlende Perspektiven

Ausschlaggebend dafür waren die katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse, die verbreitete Armut, die Arbeits- und Perspektivenlosigkeit, die Frustration über die politischen Eliten, die endemische Korruption und das Auseinanderklaffen zwischen Reich und Arm – alles typische Symptome postsozialistischer balkanischer Lebenswelten. Es ist nicht so, dass die Menschen ihr Land gerne verlassen würden, im Gegenteil, viele würden lieber bleiben, denn die Trennung von Familie, Freundeskreis und vertrauten Orten ist immer eine schwierige Entscheidung. Trotzdem ist für viele junge Menschen die Auswanderung zu einer fixen Etappe in ihrer Zukunftsplanung geworden.

In Fitore, einem kleinen Ort nahe der Vjosamündung, spreche ich mit einem Jugendlichen, der am Wochenmarkt seiner Mutter behilflich ist, die aus einem umgebauten Wohnwagen heraus köstliche gegrillte Fleischspieße an die Marktbesucher und Marktbesucherinnen verkauft. Die Familie ist vor 20 Jahren aus dem Hinterland von Vlora hierhergezogen, weil die Böden hier besser sind. Die Familie betreibt eine kleine Landwirtschaft, lebt von deren Erträgen und vom Verkauf von Getränken und kleinen Speisen am Wochenmarkt.

Einmal wöchentlich ist Markttag an der Vjosabrücke in Fitore. Am frühen Nachmittag werden die Stände abgebaut, und die Händler und Händlerinnen ziehen zum nächsten Standort weiter.
Foto: Robert Pichler, 2022

Der Onkel und der ältere Bruder sind schon vor Jahren nach Italien ausgewandert. Sie haben es geschafft, dort eine Arbeit zu finden und sich eine Existenz aufzubauen. Der junge Mann geht noch zur Schule, er fühlt sich hier sehr wohl, ist gut eingebunden in das soziale Gefüge des Dorfes und träumt davon, einmal eine eigene Autowerkstatt betreiben zu können. Natürlich wird das nicht in Albanien sein, wie er mir erklärt, sondern in Norditalien, wo sein Bruder lebt. Er wird nur noch so lange hierbleiben, bis er die Mittelschule abgeschlossen hat, dann geht’s auf nach Italien.

Auf meine Frage, warum er sich sein Leben nicht hier aufbauen könne, antwortet er entrüstet: "Wie soll das hier denn gehen!?" Es gibt hier keine Perspektive für all das, wovon er träumt: eine eigene Familie, ein eigenes Auto und eine Wohnung, in der es sich leben lässt. In Albanien kann man sich maximal das eigene Überleben sichern, aufbauen lässt sich hier nichts, denn mit 300 Euro Einkommen im Monat kommt man nicht weit. Die Preise sind auch hier enorm gestiegen. Für ihn ist es ausgemacht, dass er weg muss, um sich ein normales Leben zu verwirklichen.

Mutter und Sohn in ihrem Buffetwagen in Fitore.
Foto: Robert Pichler, 2022

Auch für seine Mutter ist diese Entscheidung sonnenklar. Ja, man wird mit dieser Trennung leben müssen, anders ist es nicht möglich. Sie selbst werde aber hierbleiben, sie sei hier aufgewachsen und ihre Ansprüche ans Leben seien nicht die der jungen Leute. Traurig sei es aber, dass man es nach 30 Jahren und so vielen politischen Versprechungen nicht viel weitergebracht habe. Ja, natürlich sei es nun besser als in den 90er-Jahren, aber nach wie vor sei man weit davon entfernt, den Kindern eine Perspektive geben zu können.

Der junge Mann ist kein Einzelfall, vielmehr repräsentiert er die Norm. Fast alle in seiner Klasse würden ähnlich denken. Hier kann man gut leben, wenn man ausreichend Geld hat, die Natur, die Landschaft, das ist alles wunderschön hier, und er wird Albanien auch auf keinen Fall für immer verlassen, er wird zurückkommen, um seine Leute zu besuchen und um Urlaub zu machen, aber zuerst muss er sich ein eigenes Leben aufbauen.

Eine fast analoge Geschichte bekomme ich im Tabakladen des Ortes zu hören. Hier beklagt sich eine Frau um die 50 über den unnötigen Zigarettenkonsum. Nikotin mache süchtig und krank, erklärt sie mir, während sie einem Kunden eine Packung über den Ladentisch reicht.

Auch ihre Familie ist eng mit Italien verflochten. Ihre beiden Kinder leben in Bologna, ebenso wie ihre Brüder, die schon in den 1990er-Jahren weggegangen sind. Ihre Kinder sind dann vor ein paar Jahren nachgegangen. Sie bedauere diese Trennung sehr, zumal ihr Mann verstorben ist und sie sich nun alleine um die Eltern kümmern müsse. Dabei hätte Albanien so viele Möglichkeiten, sagt sie, und die Albaner sind wunderbare Menschen, nur wenn sie miteinander etwas umsetzen sollen, dann scheitern sie zumeist. Viele würden daher im Ausland besser "aufgehoben" sein, dort, wo es gute Schulen gibt, wo sie eine Ausbildung bekommen und Chancen auf Jobs bestehen, mit denen sie ihre Familien ernähren können.

Die Ausbeutung des Flusses

In unmittelbarer Nähe des Marktes befindet sich das Ufer der Vjosa. Hier hat der Fluss fast schon die Dimension eines Stromes. Zwei knapp hintereinander gebaute Brücken spannen sich über den Fluss. Eine dient dem Eisenbahnverkehr, die andere dem Auto- und Personenverkehr.

Ich beobachte einen Mann, wie er mit seinem Fahrrad auf die Brücke fährt, in der Mitte haltmacht, sich vom Fahrrad schwingt und damit beginnt, seine Fischereiutensilien auszupacken. Auf einem selbstgebauten Eisengestänge spannt er ein Netz auf und lässt das Ganze dann mit einem Seil von der Brücke ins Wasser gleiten.

Fischer beim Einspannen des Netzes in Fitore.
Foto: Robert Pichler, 2022
Alle zwei bis drei Minuten wird das Netz angehoben und inspiziert.
Foto: Robert Pichler, 2022
Abendstimmung an der Vjosa.
Foto: Foto: Robert Pichler, 2022

Er kommt hier regelmäßig nach der Arbeit her, erzählt er mir. Er ist Bauer und betreibt eine kleine Landwirtschaft in der Nähe. Viel sei nicht zu holen, sagt er, zu viele haben entlang des Flusses ihre Netze ausgelegt.

Fischerhütte nahe der Vjosamündung.
Foto: Robert Pichler, 2022

Hauptverantwortlich für die Fischarmut seien aber die Stromfischer, die in der Nacht ihr Unwesen treiben. Sie halten Elektroden ins Wasser, um mithilfe eines Transformators, der an eine Autobatterie angeschlossen ist, Fische mit Stromschlägen zu betäuben. Die Fische treiben dann an der Wasseroberfläche, und man muss sie nur noch einsammeln. Diese Methode ist verboten, und sie zerstört den Fluss, da sich die Fischbestände nicht mehr richtig regenerieren können. Die Polizei unternehme nichts dagegen.

Hier mache jeder, was er wolle, sagt der Fischer resignierend. Die Fischerei zum Eigenbedarf, das sei in Ordnung. Er würde sogar Steuern zahlen, aber wenn der Staat nichts tut und nicht darauf achtet, dass die Gesetze eingehalten werden, sieht er nicht ein, dass er dazu etwas beitragen soll. Ich müsse mir ja nur die Brücke anschauen, die sei vollkommen desolat. "Es wird zwar eine Autobahn über uns hinweggebaut, aber in den Dörfern passiert gar nichts." Die Straßen und Wege seien in einem miserablen Zustand und der Müll wird einfach in den Fluss gekippt.

Und der Fluss, will ich wissen, wie wird es mit dem Fluss weitergehen? Ja, der Fluss sei schön, ein großer Reichtum, aber er wird schonungslos ausgebeutet, die Stromfischer betrachten ihn als ihr Eigentum, beklagt er. Sie bereichern sich für schnelles Geld. Man wolle leben wie im Westen, und das gehe nur, indem man das Land ausbeutet. Er selbst hat zwei Söhne im Ausland, einer mit Familie, der andere ist noch Single. "Was sollen sie auch hier machen?! In Ancona haben sie ein besseres Leben und vor allem eine Perspektive für ihre Kinder."

Der Fischer bei der Arbeit. Im Hintergrund der Müll, der hier wie andernorts einfach in den Fluss gekippt wird.
Foto: Robert Pichler, 2022

Rückkehrer als Hoffnungsträger

Während einer Umfrage zufolge rund 70 Prozent der jungen Albanerinnen und Albaner ihr Land gerne verlassen würden, gibt es auch einen kaum bemerkten, aber umso bemerkenswerteren Trend in die Gegenrichtung. Wo immer man entlang der Vjosa hinkommt und auf Menschen trifft, die unternehmerisch tätig sind, kommt man unweigerlich mit Rückkehrern in Kontakt. Ob in der Gastronomie, in der Hotellerie, im Abenteuer-, Erlebnis- und Agrotourismus, überall sind junge Leute am Werk, die im Ausland gelebt, Ausbildungen absolviert oder Berufe erlernt haben, die sie nun in der Heimat zu nutzen versuchen.

Diese Menschen sind die Hoffnungsträger der Region, die "agents of change". Bisher waren sie vorwiegend Einzelkämpfer, sind mit Ideen und ambitionierten Plänen zurückgekehrt und haben ihr im Ausland erworbenes Kapital, so gut es geht, zu investieren versucht. Unter ihnen finden sich die größten Befürworter des Nationalparkprojekts, gleichzeitig macht sich unter ihnen aber auch die Sorge breit, dass die Realisierung eines solch umfassenden Vorhabens auch große Probleme mit sich bringen könnte.

Das Vertrauen in die staatlichen Organe ist sehr gering, insbesondere in den peripheren Gebieten, aus denen sich der Staat seit der Wende weitgehend zurückgezogen hat. Was geblieben ist, sind Verwaltungsroutinen aus der sozialistischen Zeit, die mehr schlecht als recht funktionieren. Man ist es gewohnt, selbst die Initiative zu ergreifen, autonom zu handeln und zu planen. Man wird sehen, wie sich diese divergierenden "Mentalitäten" aufeinander zubewegen und wie es den Nationalparkverantwortlichen gelingen wird, die vielen neuen und kreativen Initiativen in ein Gesamtkonzept zu integrieren. (Robert Pichler, 14.4.2023)