Fachwerkhaus in Quedlinburg
Fachwerkhaus in Quedlinburg
Foto: Thomas Neuhold

Wer das erste Mal und unvorbereitet in die rund 23.000 Einwohner zählende Kleinstadt Quedlinburg in Sachsen-Anhalt am Nordrand des Harzes kommt, staunt nicht schlecht: Wie in einer Zeitkapsel steht man plötzlich in einer weitgehend mittelalterlichen Stadt. Über 2.100 original erhaltene Fachwerkhäuser stehen hier, 1.200 davon sind denkmalgeschützt. Die Stadt ist Unesco-Weltkulturerbe und dürfte das größte Flächendenkmal Deutschlands sein.

Rathaus in Quedlinburg
Rathaus in Quedlinburg
Foto: Thomas Neuhold

Ein Platz wie dieser ist zwangsläufig geschichtsträchtig, aber mehr noch: Quedlinburg gilt als Wiege Deutschlands. Hier haben die deutschen Stämme 919 dem Sachsenkönig Heinrich die Königskrone angetragen. Hier residierten in Folge viele Sachsenkaiser, von hier aus regierte die Äbtissin des Frauenstiftes lange Zeit nicht nur den eigenen Herrschaftsbereich, sondern auch das gesamte Sachsenreich. Die Nationalsozialisten wussten um das "germanische" Erbe und nutzten Quedlinburg für Propagandazwecke.

Eindrucksvoller als die gesamte mittelalterliche Historie – die Stadt ist so alt, dass sogar die sogenannte "Neustadt" aus dem Mittelalter stammt – ist für die Besucher und Besucherinnen freilich erst einmal ein unvorbelasteter Stadtbummel: Hier reiht sich Fachwerk an Fachwerk, jedes Haus ein Schmuckstück für sich, man spaziert durch ein bewohntes Freilichtmuseum. Natürlich gibt es auch hier Bausünden aus der DDR-Zeit wie aus den Jahren nach 1989, sie halten sich aber vergleichsweise im Rahmen.

Ruinenromantik

Auf den zweiten Blick werden dann die Probleme deutlich: Der Erhalt der Gebäude und ihre Adaptierung, sodass sie modernen Komfortansprüchen einigermaßen genügen, ist enorm kostspielig. In vielen Innenhöfen und in der zweiten Reihe stehen zahlreiche baufällige Gebäude, die ihrer Sanierung harren. Manche Innenhofgebäude sind nur notdürftig gesichert, wer sein Auto hier parkt, wird gewarnt: Auf eigene Gefahr!

Einsturzgefährdetes Fachwerkgebäude in Quedlinburg
Dieses Fachwerkgebäude in Quedlinburg harrt noch der Restauration.
Foto: Thomas Neuhold

Anderenorts hat man aus dem Verfall eine Tugend gemacht: Unmittelbar neben der Marktkirche und nahe dem Hauptplatz stehen die Reste einer Fürstenresidenz aus dem späten 16. Jahrhundert. Diese brannte vor knapp 20 Jahren nieder. Statt das Gebäude zu rekonstruieren, ließ man es verfallen. Erst 2020 zog wieder Leben ein. Heute beherbergen die Reste der ehemaligen Residenz ein Bistro und Kaffeehaus mit dem programmatischen Namen "Ruinenromantik". Prädikat: empfehlenswert!

Den Nordrand des Harz erkunden

Rund um das historische Zuckerl Quedlinburg gibt es – wie kaum anders zu erwarten – noch eine ganze Reihe weiterer Schatzkammern jahrhundertealter Geschichte: Blankenburg und Halberstadt oder auch das Kloster Michaelstein bei Blankenburg beispielsweise. Die beste Art, die Gegend zu erkunden, ist das Fahrrad. Die Entfernungen sind überschaubar, also auch ohne E-Bike zu schaffen.

Radstrecke im Selketal
Am besten ist man im Harz wie hier im Selketal mit einem Gravelbike unterwegs.
Foto: Thomas Neuhold

Je nach Streckenverlauf kommt man beispielsweise von Quedlinburg nach Blankenburg auf etwa 20 Kilometer – und das ohne besondere Steigungen. Da man in der Region zunehmend auf den Radtourismus setzt, schreitet der Ausbau der Radwege halbwegs zügig voran. Jüngstes Beispiel ist die stillgelegte Bahntrasse am Nordrand des Harzgebirges von Gernrode nach Ballenstedt, die zur Fahrradtrasse ausgebaut wurde. Das verfügbare Kartenmaterial ist top, die Markierungen und Wegweiser sind auch für Gebietsneulinge einigermaßen verständlich. Notfalls hilft eben Google-Maps weiter. Nur die Hauptverkehrsrouten sind zu meiden: Der Schwerverkehr ist enorm.

Wer mit dem Rad unterwegs ist, lernt das Land auch jenseits der Sehenswürdigkeiten rasch besser kennen. Auch wenn die Abwanderung, die Ausdünnung der Infrastruktur und die Überalterung vielleicht nicht ganz so dramatisch sind wie in anderen Regionen Ostdeutschlands: Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme sind auch hier erkennbar.

Ab ins Gebirge

Am besten ist man mit einem Gravelbike unterwegs. Der Anteil an nicht asphaltierten, aber gut befahrbaren Nebenstraßen wird umso größer, je weiter man aus der Ebene kommend nach Süden in den Harz hineinfährt. Ein besonderes Schmuckstück für den Radtourismus ist das Selketal. Das Landschaftsjuwel ist wie geschaffen für einen eintägigen Radausflug von Quedlinburg nach Mägdesprung. Insgesamt rund 75 Kilometer (hin und retour) sowie etwa 400 Höhenmeter sind ein auch für konditionell Schwächere machbares Pensum. Der ehemalige Bergbauort Mägdesprung eignet sich als Zielpunkt besonders, weil man hier gegebenenfalls mit der Selketalbahn – einer Schmalspurbahn aus dem 19. Jahrhundert, die mit Dieseltriebwägen aus DDR-Beständen betrieben wird – wieder nach Quedlinburg zurückfahren kann.

Bahnstation der Selketalbahn in Mägdesprung
Bahnstation der Selketalbahn in Mägdesprung
Foto: Thomas Neuhold

Zuerst geht es durch die weiten Felder südlich der Stadt, dann entlang der stillgelegten Eisenbahntrasse nach Blankenburg, bis man schließlich in das romantische, von einem klaren Bach begleitete Tal gemütlich hinaufradelt. Die touristische Infrastruktur ist allerdings enden wollend: In Mägdesprung existiert nur ein kleiner Kiosk an der Bahnstation, der ein paar Sessel im Freien hat. Aber es gibt Bier, Radler, wirklich vorzügliche Bratwürstln und freundliche Einheimische. Wie zum Trotz weht die DDR-Fahne an der Fahnenstange vor dem Stationsgebäude.

Thale und sein DDR-Museum

Touristischer Hotspot der Region ist neben dem Weltkulturerbe Quedlinburg die Kleinstadt Thale. Von Quedlinburg sind es je nach gewählter Strecke 10 bis 15 Kilometer mit dem Rad, mit dem Zug schnelle elf Minuten. Die ehemalige Eisenhüttenstadt – von hier stammten die Stahlhelme der deutschen Wehrmacht – hat sich zum Ausflugsziel gemausert. Der Aussichtspunkt Rosstrappen ist mit einem Sessellift erschlossen, ein weiterer Felszapfen, der Hexentanzplatz, mit einer Kabinenseilbahn. Es gibt Mountainbikestrecken, ein Erlebnisbad und ein Industriemuseum. Thale ist Ausgangs- oder Endpunkt für ausgedehnte Wanderungen durch den Harz.

Regal mit typischen DDR-Produkten im DDR-Museum Thale
Regal mit typischen DDR-Produkten im DDR-Museum Thale
Foto: Thomas Neuhold

Eine ganz spezielle Attraktion ist das DDR-Museum in Thale. Das Museum selbst ist im sechsten Stock eines Möbelhauses untergebracht. Es ist keine Meisterleistung moderner Museumsdidaktik, das will es auch nicht sein. Es zeigt vielmehr einen ungeschönten Blick der einfachen Leute auf ihre eigene Geschichte: Es ist eine Schau, die ganz ohne westliche Überheblichkeit daherkommt – gemacht von ehemaligen Bürgern und Bürgerinnen der DDR für ehemalige Bürger und Bürgerinnen der DDR und vor allem auch für deren Söhne, Töchter und Enkelkinder. Den selbst die heute 40-Jährigen haben ja nur mehr eine dunkle Erinnerung an "damals", und die "Nachwendekinder" sind auch bereits erwachsen.

SED-Wappen im DDR-Museum Thale
SED-Wappen im DDR-Museum Thale
Foto: Thomas Neuhold

Natürlich findet sich hier auch die eine oder andere kritische Anmerkung zur Geschichte der DDR und zur Politik der SED-Führung, das Hauptaugenmerk der Exponate ist aber dem Alltagsleben gewidmet. Neben nachgebauten Wohnzimmern und Küchen gibt es eigene Abschnitte zu Themen wie Urlaub, Kantine, TV und Rundfunk, Büroarbeit, aber auch zu den Parteien und Massenorganisationen. Am Rückweg kann man dann noch im Thaler Bahnhofsbeisl einkehren. Hier findet sich eine eigene Speisekarte für typische "Ossi-Gerichte". Alles wie einst, nur die Preise sind in Euro. (Thomas Neuhold, 8.8.2023)