Olaf Scholz war am Mittwoch nach einer Verletzung beim Joggen mit Augenklappe im Parlament.
Olaf Scholz war am Mittwoch nach einer Verletzung beim Joggen mit Augenklappe im Parlament.
REUTERS/ANNEGRET HILSE

Der Gegensatz hätte kaum größer sein können. Sichtbar lädiert nach seinem Joggingunfall und daher mit Augenklappe stand Olaf Scholz am Mittwoch im Bundestag am Rednerpult. Dort aber gab sich der deutsche Kanzler kämpferisch und kraftstrotzend.

In seiner Rede begnügte er sich diesmal nicht mit einer Aufzählung dessen, was die Ampelregierung alles auf den Weg bringe und wie sie so für Fortschritt sorge. Vielmehr räumte Scholz ein, was ohnehin nicht zu übersehen ist und alle wissen: Über dem Land liegt Mehltau. Aber das will Scholz nun ändern und appelliert an Ministerpräsidenten, Landräte und Landrätinnen, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, ja sogar an die oppositionelle Union, einen sogenannten Deutschland-Pakt zu schließen.

Das soll bedeuten: Alle müssen sich anstrengen. Volle Kraft voraus, Deutschland wird entrümpelt, bekommt Vitaminspritzen und wird fit gemacht.

Schwächelnde Konjunktur

Nötig ist das allemal. Natürlich zählt Deutschland nach wie vor zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Man lebt dort gut, das Sozialsystem, Schulen, Krankenhäuser und viele andere Einrichtungen sind besser als anderswo. Aber Deutschland lahmt auch gewaltig und lebt von seiner Substanz, die immer stärker bröckelt. Das macht nicht nur ein Blick auf die schwächelnde Konjunktur klar, die im Gegensatz zu jener in anderen Staaten nicht in die Höhe kommt.

Jeder und jede kann noch eine unschöne Geschichte dazu erzählen: von fehlenden Facharbeitern und Facharbeiterinnen, von schleppender Digitalisierung, maroden Schulklos und Turnhallen, hoher Inflation, ebensolcher Steuerlast für den Mittelstand, kaputten Brücken – das alles garniert mit Bürokratie, die Geld, Zeit und Nerven raubt. Und natürlich darf der Klassiker nicht fehlen: die Bahn, die so häufig und noch öfter unpünktlich ist. Irgendwie haben sich die Deutschen in dieser Jammerei eingerichtet. Der Ampelregierung traut man wenig zu, ihre Umfragewerte sind desaströs.

All das beschert zwar jenen, die beruflich Kabarett machen, viel Stoff. Aber in der Realität kann es so schon lange nicht mehr weitergehen. Scholz weiß das und hat daher dem Land nun so etwas wie eine "Ruck-Rede" vorgesetzt, so wie der damalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog, der 1997 forderte, es müsse "ein Ruck durch Deutschland gehen", und mehr Innovation einmahnte.

Keine Reformen von innen

26 Jahre später probiert Scholz das auch. Und es ist ja nicht so, dass die Politik nichts kann. Wenn sie nur will, dann geht recht viel. Da werden innerhalb von Stunden Corona-Sondertöpfe oder ein Bundeswehr-Fonds mit Milliarden gefüllt. Ein LNG-Terminal an der deutschen Nordseeküste ist binnen Monaten geplant, gebaut und betriebsbereit. Aber derlei funktioniert unter Druck, wenn ein äußeres Ereignis dazu zwingt. Die Reformen von innen hingegen werden verschlafen.

Man kann also Scholz’ Aufruf durchaus begrüßen, darf aber gleichzeitig skeptisch bleiben. 25 Jahre sind seit der Abwahl von Helmut Kohl als Kanzler vergangen. Seither war die SPD 21 Jahre lang in Regierungsverantwortung. Muss man mehr sagen?

Dass jetzt alle zusammenhalten sollten, ist richtig. Ob sie es tun, mehr als fraglich. Am besten erklärt Scholz seinen schönen Plan als Allererstes einmal seiner eigenen Ampelkoalition. (Birgit Baumann, 6.9.2023)