Das Hafengelände von Odessa.
Das Hafengelände ist wegen des aktuellen Kriegs streng abgeschirmt. Am Hafen fand auch ein dramatisches Kapitel in der Geschichte Odessas statt. Dort wurden einst tausende Juden in Lagerhäuser gepfercht und bei lebendigem Leib verbrannt.
IMAGO/Viacheslav Onyshchenko

"Fangen Sie gar nicht erst damit an. Geschichten aus dieser Zeit, die es wert wären, genau untersucht zu werden, gibt es immer noch mehr als genug", sagt Oleksander Babych. Zum Beispiel die über die Balletttänzerinnen, die sich mit rumänischen Offizieren einließen und binnen Tagen spurlos verschwanden, nachdem die Rote Armee die Stadt zurückerobert hatte.

Babych, ein stämmiger Kahlkopf, der die Situation in so atemlosem wie bestimmtem Ton erklärt, ist seit Beginn der russischen Invasion der gesamten Ukraine ein gefragter Mann. Das Büro, das der Mittfünfziger im Erdgeschoß eines Altbaus in der Gogol-Straße im Zentrum Odessas unterhält, ist mit Memorabilien vollgestopft, die Aufschluss über seine Leidenschaft geben: die Geschichte seiner Heimatstadt. Eine Periode hat es ihm besonders angetan: jene knapp zweieinhalb Jahre, in denen die Schwarzmeer-Metropole unter faschistischer Besatzung stand. Am 16. Oktober 1941 marschierten die unter dem Befehl des Diktators Ion Antonescu stehenden Truppen Rumäniens in Odessa ein. Unterstützt wurden sie von SS-Verbänden.

Dunkle Epoche

Darüber, was bis zur Befreiung der Stadt durch die Sowjetarmee am 10. April 1944 hier passierte, sprechen viele Odessiten heute nur ungern. Laut dem in Georgetown lehrenden US-Historiker und Politikwissenschafter Charles King, dessen Buch Odessa: Genius and Death in a City of Dreams als Standardwerk gilt, mit gutem Grund: "Es ist eine dunkle Epoche, die vor allem eines gezeigt hat: dass der Odessa zugeschriebene Kosmopolitismus nichts war, was der Stadt in die Wiege gelegt wurde. Am Ende erwies er sich als äußerst fragiles Konzept, das beim ersten Test schnell in sich zusammenbrach."

Keine Woche nachdem die Besatzer das Kommando über die Hafenstadt übernommen hatten, explodierte im ehemaligen Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes NKVD (der Vorgängerorganisation des KGB) eine von dessen Mitarbeitern hinterlassene Bombe, die über fünf Dutzend rumänische und deutsche Offiziere das Leben kostete. Was folgte, war ein Massenmord epischen Ausmaßes. Alle in der Stadt verbliebenen Juden – die bis zum Beginn der Belagerung im Sommer 1941 ein Drittel der Bevölkerung stellten – wurden zu Staatsfeinden erklärt. Auch wenn den meisten der rund 200.000 vor dem Krieg in Odessa lebenden Juden rechtzeitig vor dem Fall der Stadt die Flucht gelungen war, wurden allein zwischen 22. und 24. Oktober 1941 zwischen 25.000 und 34.000 von ihnen ermordet.

Späte Aufarbeitung

Auch, wie Autoren wie King nachwiesen, dank tausender Odessiten, die sich entgegen ihrem Ruf als tolerante Weltstädter gegenseitig darin überboten, ihre Nachbarn, Freunde und Bekannten ans Messer zu liefern. Mit Ausnahme jenes Platzes am Hafen, an dem tausende Juden in Lagerhäuser gepfercht und bei lebendigem Leib verbrannt wurden – das Gelände ist wegen des aktuellen Kriegs streng abgeschirmt –, sind die Orte, denen in dieser Epoche unrühmliche Schlüsselrollen zukamen, heute frei zugänglich.

Die Aufarbeitung dessen, was zwischen Oktober 1941 und April 1944 hier geschah, fand allerdings erst spät statt. "Die Sowjets hatten nur Interesse daran, sich selbst zu feiern", sagt Lokalhistoriker Babych. "Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Erbe der Besatzung, die Odessa de facto zur Stadt ohne Juden machte, hat es nie gegeben."

Er selbst brachte 2021 ein Buch heraus, in dem er mit den letzten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sprach, um ein Bild vom Alltagsleben während dieser Ära zu bekommen. "Die Arbeit daran hat zu meinem Verständnis beigetragen, warum Russland heute Odessa dermaßen fetischisiert. Sie wissen schon, die Heldenstadt, die als Einzige auf dem Boden der Sowjetunion nicht von den Deutschen besetzt war und so weiter. Aber wenn man sich anhört, wie Putin und seine Bande heute diese Geschichte instrumentalisieren: Entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, aber da kommt mir wirklich das Kotzen." (Klaus Stimeder aus Odessa, 15.10.2023)