Diese Blogserie basiert auf einem Buchprojekt, an dem ich seit geraumer Zeit mit Kolleginnen aus der Soziologie und Anthropologie arbeite. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit diesem Thema war ein gemeinsames Editionsprojekt, in dem wir uns mit den Hoffnungen und Realitäten von Remigrant:innen befassten, die nach der Wende 1989/91 in das östliche Europa zurückkehrten.1

Aus dieser Beschäftigung entstand die Idee, sich umfassender mit den Dimensionen des "Zurück" im östlichen Europa auseinanderzusetzen.2 Das schloss sowohl eine vertiefte historische Beschäftigung mit unterschiedlichen Szenarien der Rückkehr ein als auch eine Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit kultureller und politischer Rückkehrmythen, die im östlichen Europa (und darüber hinaus) insbesondere seit der Wende enorm an Relevanz gewonnen haben.

Boot steht auf dem Land, Schwarz-Weiß Foto
"Hausboot" eines Remigranten. Albanien, Fieri.
Robert Pichler 2008

Der Fokus dieser Blogserie richtet sich auf das südöstliche Europa. Die Fallbeispiele, die hier vorgestellt werden, befassen sich mit Motiven, Sehnsüchten, Praktiken und Erfahrungen der Rückkehr. Dieser erste Teil der Serie gibt einen allgemeinen Einblick in die Thematik.

Migrationsbewegungen damals und jetzt

Sehnsüchte nach Rückkehr an Orte und Zeiten, wie sie früher einmal gewesen sein sollen, sind keinesfalls ein "osteuropäisches" Spezifikum, sie lassen sich aber im östlichen Europa besonders häufig antreffen. Die Gründe dafür sind historisch und spiegeln sich in der ausnehmend turbulenten Bevölkerungsgeschichte der Region wider, ausgehend vom Zerfall der multiethnischen Imperien und der Entstehung (ethnischer) Nationalstaaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch der realsozialistischen Ordnungen in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren.

Waren die kommunistischen Regime noch darauf bedacht, Bevölkerungsbewegungen zentral zu steuern und die Ausreise nach Westeuropa – nimmt man Jugoslawien aus – zu unterbinden, so brachte der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft auch das lange ersehnte Recht auf Bewegungsfreiheit, das zumindest für Teile der Bevölkerung die Möglichkeit einschloss, ins Ausland zu migrieren. Die demografischen Umwälzungen, die damit einhergingen, waren und sind nach wie vor von einem gewaltigen Ausmaß.

Abwanderungen aus den Dörfern in die Städte, von den Bergen in die Ebenen und an die Küsten sowie Emigrationsprozesse Richtung Westeuropa und Amerika haben zur Entvölkerung ganzer Landstriche und zur mitunter chaotischen Entstehung neuer Ballungszentren geführt. Die Emigration vieler junger Menschen hat die demografische Struktur in den Ländern nachhaltig verändert, Überalterung und negatives Bevölkerungswachstum sind endemisch. Das Tempo der Migrationen und die Richtungen, in die die Menschen migrieren, lassen sich statistisch nur schwer nachvollziehen.

In jüngerer Zeit ist es zusätzlich zu den saisonalen Arbeitsmigrationen aus den Nachbarländern – die infolge des enormen Arbeitskräftebedarfs westlicher EU-Länder deutlich abgenommen haben – auch vermehrt zu Zuwanderung aus asiatischen Ländern in die Region gekommen. Hinzu kommt, dass die sogenannte Balkanroute mitten durch die Region verläuft und viele Flüchtlinge in Lagern ausharren, von Pushbacks betroffen sind, sich in der Region verstreuen und über irreguläre Routen versuchen, nach Westeuropa zu gelangen.

Rückkehr nach der Wende

Deutlich unauffälliger, aber doch beständig und mit großen Hoffnungen verknüpft, kam es nach der Wende auch zu Rückkehrprozessen. Ehemalige politische Dissidenten, Vertriebene und Geflüchtete wagten den Weg zurück in ihre "alte Heimat", oft in der Hoffnung, dort etwas bewegen zu können. Nicht wenige kehrten kurzzeitig zurück, um noch einmal die Orte aufzusuchen, an denen sie aufgewachsen waren und von denen sie später vertrieben wurden. Nicht selten sind es auch Kinder und Kindeskinder der ehemals Vertriebenen, die sich auf den Weg machen, um die Dörfer, Städte und Landschaften zu sehen, von denen alte Fotografien und Berichte ihrer Vorfahren erzählen.

In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft setzte man in der Übergangszeit auf Rückkehrer:innen, denen der Nimbus anhaftete, rasch etwas im Sinne einer Westorientierung bewirken zu können. Auf der politischen Bühne suchten Nachkommen ehemaliger Herrscherhäuser sich neuerlich zu etablieren, und Eigentümer großer Ländereien strebten nach Kompensation für die Enteignungen während der kommunistischen Zeit.

Diasporaministerien wurden gegründet, um verlorengegangene Beziehungen zu Co-Nationalen im Ausland wiederherzustellen und sie dazu anzuregen, in der "alten Heimat" aktiv zu werden. Unternehmer:innen, die es im Westen zu etwas gebracht hatten, galten als Hoffnungsträger für die marode Wirtschaft. Ihre Erfahrungen, ihr Know-how und ihre Heimatverbundenheit sollten dem Wohl des Landes zugutekommen.

In den Konfliktregionen des ehemaligen Jugoslawien wurden Rückkehrer:innen entweder zwischen den Fronten zerrieben – sofern sie sich nicht für eine Seite entschieden –, oder sie leisteten Beiträge in den sogenannten vaterländischen Kämpfen zur Verteidigung der Heimat sowie zum demokratischen Aufbau der Länder. Nicht wenige vormals von den Partisan:innen während des Zweiten Weltkrieges Vertriebene beziehungsweise deren Nachkommen haben zu Radikalisierung und Gewalteskalation entscheidend beigetragen.

Die stille Rückkehr der jugoslawischen Arbeitsmigrant:innen

Arbeitsmigrant:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die bereits seit den 1960er-Jahren nach Westeuropa gingen, zeigten eine starke Tendenz zur Rückkehr. Die Abkommen, die Jugoslawien mit mehreren westlichen Ländern – darunter auch Österreich – geschlossen hatte, waren auf vorübergehende Aufenthalte im Ausland ausgerichtet. Obwohl diese temporären Migrant:innen rasch Migrationsnetzwerke bildeten, die zur Auswanderung und zur Niederlassung in den Destinationsländern führten, blieb Rückkehr für sie ein wichtiges Motiv.

Für die fortbestehenden translokalen Beziehungen spielten Familien- und Verwandtschaftsbande eine wichtige Rolle, wie überhaupt Migrationsentscheidungen vielfach in Abstimmung mit der Familie getroffen wurden. Nicht nur die Herkunftsorte, sondern vor allem Familienmitglieder, Verwandte und Freund:innen bleiben für Migrant:innen Bezugspersonen, mit denen man in Kontakt bleibt, die man unterstützt und zu denen man regelmäßig zurückkehrt. Das trifft auch dann zu, wenn sich die Lebensmittelpunkte verändert haben, es im Destinationsland zu Familiengründungen gekommen ist und die Kinder nur noch aus der Entfernung das Leben ihrer Großeltern oder entfernteren Verwandten mitbekommen.

Insbesondere die Arbeitsmigrant:innen der ersten Generation richteten ihr Leben darauf aus, irgendwann nach dem Ende der Berufslaufbahn zurückzukehren. In einigen Regionen sind diese Bindungen sehr stark ausgeprägt, wie man an der Höhe von Rücküberweisungen erkennen kann. Migrant:innen und jene, die bereits in den Destinationsländern aufgewachsen sind, investieren nach wie vor in die Ausbildung von Verwandten, in die Pflege der Eltern, in den Bau neuer Häuser, in die Errichtung von Kirchen und Moscheen, in humanitäre Aktivitäten, in Ambulanzen, (Familien-)Betriebe und Immobilien.

Nicht selten kommt es auch vor, dass sich (Post-)Migrant:innen ihre Ehepartner:innen aus der Herkunftscommunity suchen; ob diese noch am Herkunftsort leben oder an einem anderen Ort im "Ausland", spielt dabei nur eine sekundäre Rolle. Hochzeiten werden nach wie vor bevorzugt im Herkunftsland gefeiert. Hierdurch bilden sich translokale Gemeinschaften heraus, die eine Art von Orts-, Nations- und Kulturverbundenheit erzeugen, die angesichts herausfordernder Erfahrungen in den Destinationsländern eine gewisse Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln.

Menschen auf Boot unter Regenschirmen mit Gepäck, Foto
Rückkehr entlang des Drin in die Berge Nordalbaniens. Aus der Serie "Travelling Drini".
Robert Pichler, 1993. In: Robert Pichler, Edit Pula(j), Albania’s 90s. Photographs and Narraties. Wien: bahoe books 2020.

Rückkehr innerhalb Südosteuropas

Rückkehrer:innen gibt es aber nicht nur aus den westlichen Ländern, sondern auch innerhalb der Region. Die Kriege in Jugoslawien haben in Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Kroatien zu Flucht, Vertreibung und ethnischen Säuberungen bis hin zu einem Genozid geführt, mit dem Ziel, ethnisch homogene Territorien zu schaffen. Die Gewalt, die dabei eingesetzt wurde, zielte vielfach darauf ab, eine Rückkehr der Vertriebenen zu verunmöglichen.

Die Nachkriegsordnungen sahen aber – erstmals in der Geschichte der Region – ein Rückkehrrecht vor, das vor allem ältere Menschen, die in ihren vermeintlichen Heimatländern sowie in den westlichen Ländern, in denen sie als Geflüchtete Aufnahme fanden, nicht heimisch wurden, in Anspruch nahmen. Auch diese Art der Rückkehr spielt sich in der Region ab, die Prozesse, die damit einhergehen, werden bei uns kaum wahrgenommen. Ebenso wenig wie jene Erfahrungen, die Menschen durchleben, die abgeschoben werden und keine Möglichkeit mehr besitzen, ihr zugewiesenes Heimatland zu verlassen. Das trifft in besonderer Weise auf Mitglieder von Minderheiten zu, die infolge kriegerischer Auseinandersetzungen vertrieben wurden und über keinen staatlichen Schutz verfügen, wie Roma, Aschkali oder Balkan-Ägypter.

Der Rückkehr Co-Nationaler wird in der Region durch mitunter gegebene diasporapolitische Maßnahmen Rechnung getragen, Mitglieder von Minderheiten werden aber nur dann zur Diaspora, wenn sie über einen Nationalstaat verfügen. Darin liegt eine der Konsequenzen des ethnischen Nationalismus, der – vor dem Hintergrund vormals multikultureller Gesellschaften – in geradezu narzisstischer Art und Weise sich nur mit dem Schicksal der eigenen Ethnonation befasst.

Fähre mit sehr vielen Menschen im Wasser
Fähre auf dem Weg von Fierza nach Bajram Curri entlang des aufgestauten Drin. Aus der Serie "Travelling Drini".
Robert Pichler 1993. In: Robert Pichler, Edit Pula(j), Albania’s 90s. Photographs and Narratives. Wien: bahoe books 2020

"Retrotopia" und die Sehnsucht nach Stabilität, Ordnung und Gewissheit

Die weitreichenden Dimensionen der Rückkehr beschränken sich aber keinesfalls auf Erfahrungen von Migrant:innen. Sie sind, ausgelöst durch Globalisierung, Zuwanderung und Transnationalisierung, auch in den westlichen Gesellschaften deutlich wahrzunehmen.

Während Millionen Menschen vor Krieg, Vertreibung, Dürre, Hunger, Korruption und wirtschaftlicher Not in den Westen flüchten, macht sich dort ein Unbehagen breit, das auch hier von Rechtspopulisten, Neofaschisten und religiösen Fundamentalisten dazu ausgenutzt wird, die Grundfesten der Demokratie, die Werte des Liberalismus und die Prinzipien der Menschenrechte infrage zu stellen. Dieses Unbehagen ist in der Gegenwart gepaart mit einer zunehmenden Angst vor der Zukunft und löst bei vielen Menschen die Sehnsucht nach einer Rückkehr in eine vermeintlich bessere, geordnetere und stabilere Vergangenheit aus.

Die Kulturtheoretikerin Svetlana Boym bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt, dass dem verbreiteten Verlangen nach Gemeinschaftlichkeit und gemeinsamer Vergangenheit eine Sehnsucht nach Kontinuität angesichts beschleunigter Lebensrhythmen und historischer Umwälzungen in einer zunehmend fragmentierten Welt zugrunde liegt.3 Auf dieser Ebene treffen sich die Lebensverhältnisse von Migrant:innen, Postmigrant:innen, Flüchtlingen und Menschen, die über Jahrzehnte oder gar Generationen an einem Ort leben und erleben, wie sich ihre Nachbarschaften vielfach auch infolge der Migration drastisch verändern. (Robert Pichler, 9.11.2023)