In Österreich wird familiäre Fürsorge oft im nationalstaatlichen Rahmen betrachtet, nicht zuletzt weil staatliche Leistungen eine wichtige Basis der sozialen Sicherung darstellen, sei es durch Rentenbezüge, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe oder Kindergeld, staatliche Kinderbetreuung und Ausbildungsförderung. Staatliche Versorgungsleistungen werden daher oft als komplementär zu familiären Fürsorgeleistungen gesehen; sie scheinen sich gegenseitig zu ergänzen.

Im Kosovo, der 2008 seine Unabhängigkeit erklärt hat, ist die staatliche soziale Sicherung nur rudimentär vorhanden. Insbesondere im ländlichen Raum gibt es kaum Kindergärten, ein einziges staatliches Altenheim befindet sich in der Hauptstadt Prishtina. Die Basis-Rentenbezüge liegen bei 100 Euro pro Monat, Sozialhilfe erhalten nur in Armut lebende Personen, eine allgemeine staatliche Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung gibt es nicht. Im Zuge der seit den 1990er-Jahren voranschreitenden globalen Neoliberalisierung ist es zu einer Privatisierung der sozialen Sicherungsleistungen gekommen, aber nur wenige haben einen ausreichenden privaten Versicherungsschutz. Der Familie kommt daher eine enorm große Rolle in den verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherung zu.

Mit Blick auf grenzübergreifende familiäre Netzwerke von Kosovo-Albaner:innen möchte ich in diesem Beitrag zeigen, wie sich die familiäre Fürsorge in Anbetracht der sich ändernden Grenz- und Migrationsregime seit den 1990er-Jahren gewandelt hat. Welche Fürsorgepraktiken wurden beibehalten, welche haben sich neu etabliert und welche Versorgungslücken sind hier entstanden? Wie haben sich die Familienbeziehungen verändert?

Arbeitsmigration als Basis für familiäre Fürsorge im Kosovo

Tatsächlich weist die familiäre Fürsorge im ländlichen Kosovo eine besondere Spezifik auf: Sie ist traditionell an Arbeitsmigration geknüpft. Dies geht schon auf die osmanische Zeit zurück, in der diese Migration kurbet (vom türkischen gurbet, "Fremde") genannt wurde. Mit der Integration des Kosovo in das erste und zweite Jugoslawien vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen junge Männer in anderen Teilen Jugoslawiens eine Arbeit auf. Seit den späten 1950er-Jahren war staatlich tolerierte Arbeitsmigration nach Westeuropa weit verbreitet.

Die von den Migranten zurückgesendeten Geldüberweisungen wurden zur "Lebensader" vieler kosovo-albanischer Familien, die in den ländlichen Bereichen oft in komplex strukturierten Haushalten wohnten, in denen Eltern mit ihren verheirateten Söhnen und deren Familien zusammenlebten. Seniorität, der Vorrang älterer Personen gegenüber jüngeren Familienmitgliedern, und Patrilinearität, der Vorrang der männlichen gegenüber der weiblichen Abstammungslinie, stellten die Basis der internen Familien- und Haushaltshierarchie dar. Söhne, die migriert waren, um Geld für die Familie zu verdienen, ließen zumeist Frau und Kinder im elterlichen Haushalt zurück. Das Geld, das sie sendeten, wurde vom Haushaltsvorstand verwaltet.

Fluchtmigration und Familiennachzug seit den 1990er-Jahren

Mit dem blutigen Zerfall des sozialistischen Jugoslawien in den 1990er-Jahren änderten sich auch die Migrationsoptionen und Migrationspraktiken. Obwohl die Möglichkeiten der Arbeitsmigration und des visafreien Aufenthalts in den Staaten der Europäischen Union eingeschränkt wurden, verließen neben Männern auch Frauen und Kinder aufgrund des in einen Krieg eskalierenden politischen Konflikts den Kosovo und flüchteten oftmals nach Westeuropa. Viele haben damals in den Aufnahmeländern eine Duldung bekommen, durch die sie nur unter prekären Umständen leben konnten. Familiäre Solidarität mit den Daheimgebliebenen wurde in den Kriegsjahren dennoch zum Teil verstärkt.

Seit Ende des Krieges 1999 sind viele – auch auf Druck der Aufnahmeländer – wieder in den Kosovo zurückgekehrt. Andere haben es geschafft, einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu bekommen, und sind dann meist in den Aufnahmeländern geblieben. Gleichzeitig haben sich die Migrationsoptionen für Kosovo-Albaner:innen stark vermindert. Legale Arbeitsmigration nach Westeuropa war – ebenso wie Asylmigration – nur noch in Einzelfällen möglich. Wie ein Bericht der European Stability Initiative (ESI) aus dem Jahr 2006 konstatiert, würden den Kosovo-Albaner:innen durch die fehlenden Migrationsoptionen die Versorgungslinien gekappt werden, was zu einer Krise der sozialen Sicherung führen würde.1 Nicht zuletzt, weil angenommen wurde, dass die kosovoalbanischen Familien mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht in den Immigrationsländern mit der Zeit immer weniger Geld nach Hause schicken würden.

Translokale Ethnographie

Die Basis meiner Forschung bildet eine ethnographische Feldforschung, die sich über drei Jahre erstreckte und die ihren Ausgangspunkt im Südkosovo nahm, in der ländlichen Region Opoja, die seit Jahrzehnten stark von Migration nach Österreich, Deutschland und in die Schweiz geprägt ist. Meine Forschung schließt auch Migrant:innen ein, deren Familiennetzwerke in der Region Opoja verankert sind und die ich nicht nur in Opoja, sondern auch in ihren Wohnorten im Migrationskontext besucht habe. Diese doppelte Kontextualisierung eröffnet neue Einblicke in die Positionierungen der verschiedenen Familienmitglieder und in das soziale Netz der Familienbeziehungen und legt Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und Komplexitäten offen.

Blick auf Dörfer der Region Opoja im Südkosovo, 2012.
Carolin Leutloff Grandits

In meiner Analyse kontextualisiere ich die verschiedenen Perspektiven der Dorfbewohner:innen und der Migrant:innen innerhalb der größeren gesellschaftlichen Dynamiken und den damit verbundenen Machtverhältnissen. Dieser translokale Ansatz ermöglicht es, festgefahrene Annahmen über kosovoalbanische Familien zu hinterfragen und neue Denk- und Erkenntnisperspektiven aufzuzeigen. Parallel zu meiner Forschung haben zwei kosovarische Wissenschaftler:innen, Eli Krasniqi und Tahir Latifi, zu Familie und sozialer Sicherung im Rahmen ihrer Doktorarbeit im Kosovo geforscht.

Translokale familiäre Fürsorge

In meiner Forschung habe ich gezeigt, dass die Fürsorgeleistungen von Migrant:innen an die in der Heimat verbliebenen Familienmitglieder weit mehr als Geldüberweisungen zur Deckung von Lebenshaltungs-, Gesundheits- und Ausbildungskosten beinhalten, auch wenn diese – entgegen der von ESI statuierten These – vielmehr auch 25 Jahre nach Ende des Krieges auf einem hohen Niveau geblieben beziehungsweise zum Teil sogar angestiegen sind. Sie beinhaltet auch die Ausrichtung von Hochzeiten und den Bau von Häusern im Herkunftskontext, und damit die Pflege und Neukreierung von grenzübergreifenden familiären Beziehungen.

Hochzeitsfeier in Opoja im Kosovo, 2011.
Carolin Leutloff-Grandits

Mit Blick auf die vielfältigen Leistungen von Familienmitgliedern in verschiedenen Phasen ihres Lebens konnte ich außerdem zeigen, dass sich Fürsorgeleistungen verschieben. Wer ein Haus baut oder eine Hochzeit ausrichtet, kann oft nicht gleichzeitig Verwandten Geld für die Deckung von Lebenshaltungskosten senden. Sie oder er mag aber Familienmitglieder darin unterstützen, zu migrieren und neue transnationale Beziehungen aufzubauen – nicht zuletzt durch Heiratsmigration, die seit dem neuen Millennium für viele Kosovar:innen die einzige legale Migrationsform war. Und beziehungsweise oder auch durch die Vermittlung einer Arbeit, was insbesondere in Deutschland nach Einführung des Westbalkanabkommens im Jahre 2016 zentral wurde, oder die Bereitstellung einer Wohnung im Einwanderungskontext.

Durch die vermehrte Migration von Frauen, die im Einwanderungskontext früher der später eine Arbeit aufnehmen, werden auch Frauen zu Senderinnen von Rücküberweisungen, was ihren Status in der Familie verändert. Gleichzeitig fehlen sie zum Teil im ländlichen Kosovo bei der Pflege von älteren Familienangehörigen. Hier entstehen durch die Migration also auch neue Versorgungslücken. Anstatt patriarchale Familienbeziehungen als gegeben anzunehmen, habe ich genauer untersucht, inwiefern sich Familie durch gelebte Fürsorgebeziehungen im Rahmen der Migration rekonstituiert und rekonfiguriert.

Hausbau als in Zement gegossene Familiensolidarität?

Beispielhaft soll hier der Hausbau im ländlichen Kosovo herausgriffen werden, da dieser oft hauptsächlich von Migrant:innen finanziert wird. Der Bau dieser Häuser zeugt von dem Wunsch vieler Migrant:innen nach lokaler Verwurzelung und Status in der Herkunftsgesellschaft. Der Erfolg dieser Projekte hängt daher auch von der entsprechenden Würdigung seitens der lokalen Bevölkerung ab. Häuser dienen des Weiteren oft dazu, den eigenen Kindern eine Heimat im Kosovo zu schaffen. Sie weisen damit über die eigene Generation hinaus – auch wenn nicht alle Kinder diese Wünsche teilen.

Fürsorgebeziehungen zu Familienmitgliedern im Herkunftskontext werden dann augenscheinlich, wenn Migrant:innen nicht nur den Bau eines Hauses für die eigene Nuklearfamilie finanzieren, sondern auch für im Herkunftskotext lebende Familienangehörige und Verwandte. Die Solidarität und der Zusammenhalt zwischen Brüdern, die auf tradierte Familienwerte zurückgehen, zeigen sich an den Zwillings-, Drillings- und Vierlingshäusern, die in den 2000er-Jahren überall im ländlichen Kosovo gebaut wurden und durch die der brüderliche Zusammenhalt sozusagen "in Zement gegossen" wird. Der Hausbau kann trotz seiner Symbolkraft aber auch mit dem Ende finanzieller Fürsorgeleistungen zwischen Brüdern verbunden sein, zumal der Bau oft mit einer Haushaltsteilung einhergeht und damit die ökonomische Einheit zwischen – oft in verschiedenen Staaten wohnenden – Brüdern und ihren Familien beendet wird.

Drillingshäuser im ländlichen Kosovo, 2013.
Carolin Leutloff-Grandits

Durch die weitgehende Abwesenheit der Migrant:innen, die oft nur im Sommer Besuche im Kosovo abstatten, werden die Häuser nicht selten zu einer leeren Hülle einer Kooperation, die im Alltag nicht gelebt werden kann. Außerdem finanzieren nicht alle Migrant:innen die Häuser ihrer Brüder mit, geschweige denn die ihrer Schwestern. Der Hausbau kann außerdem zu Spannungen innerhalb der Partnerschaft führen, wenn Frauen zum Beispiel die Unterstützung des Hausbaus für Familienangehörige des Ehemannes hinterfragen oder nicht in den Herkunftsorten ihrer Ehemänner bauen wollen, sondern lieber im Herkunftsort der eigenen Familie, im städtischen Kontext im Kosovo oder auch im Migrationskontext. So werden Hausbauprojekte von Migrant:innen auch leicht zur Arena von Familienkonflikten. Am Hausbau zeigen sich daher die verschiedenen Konvergenzen und Bruchlinien der familiären intra- und intergenerationalen Solidität über staatliche Grenzen hinweg, wie auch die sich verändernden Genderbeziehungen. (Carolin Leutloff Grandits, 14.11.2023)