Nicht nur bei Atommüll stellt sich die Frage, welches Risiko ein Lager radioaktiver Stoffe im Fall eines Kriegs mit sich bringt, wie der Ukrainekrieg zeigt. Größer ist diese Gefahr üblicherweise, wenn es um Atomwaffendepots geht, die selbst darauf angelegt sind, große Schäden zu verursachen. Würde etwa das Atomwaffenarsenal in den USA angegriffen werden, rechnen Fachleute mit zwei Millionen Todesfällen allein durch akute Strahlenbelastung. Weitere 300 Millionen Personen könnten durch den Fallout sterben, also den radioaktiven Niederschlag mit dem Staub aus den Explosionen. Dies ginge über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus, die selbst eine Bevölkerung von 340 Millionen Menschen haben.
Auf diese Zahlen kommt eine Simulation, die der Kernwaffenexperte Sébastien Philippe von der Universität Princeton für das Magazin "Scientific American" mit Kolleginnen und Kollegen durchgeführt hat. Dabei handelt es sich nicht um eine fachbegutachtete Studie, wie man sie in Fachjournalen veröffentlicht. Die Zeitschrift veröffentlichte bereits 1976 und 1988, während des Kalten Kriegs, vergleichbare Analysen.
Der jetzige Sonderbericht erhält seine Aktualität nicht nur durch den in diesem Sommer erschienenen Blockbuster "Oppenheimer". Er kam zustande, da die US-Regierung plant, die Atomwaffen für 1,5 Billionen Dollar zu modernisieren: Die teils 50 Jahre alten Raketen will man durch neue Modelle ersetzen, die Infrastruktur erneuern.
Über Grenzen der USA hinaus
Die USA verfügen innerhalb der Bundesstaaten über mehrere Hundert Abschussanlagen für landgestützte ballistische Interkontinentalraketen. Diese 450 Abschussanlagen werden kontinuierlich in Abschussbereitschaft gehalten, um einen nuklearen Angriff aus dem Ausland zu verhindern. Sie befinden sich in fünf Bundesstaaten im zentralen bis nördlichen Bereich der USA: Montana und North Dakota liegen an der Grenze zu Kanada, südlich davon gehören außerdem Wyoming, Nebraska und Colorado zu den Staaten mit solchen Anlagen.
Diese Verteilung auf mehrere Standorte soll es für potenzielle Gegner schwierig machen, einem Vergeltungsschlag zu entgehen. Immerhin müsste man dafür alle 450 Anlagen gleichzeitig treffen. Dies soll auch das Risiko für einen Angriff minimieren.
Bemerkenswert ist, dass der neuen Auswertung zufolge weite Teile Nordamerikas von einem solchen Katastrophenfall betroffen wären. Je nach Wind und Wetterlage gelte dies für fast die gesamte Bevölkerung der zusammenhängenden US-Bundesstaaten (Hawaii und Alaska grenzen an keine anderen US-Staaten) sowie die nördlichen Regionen Mexikos und die am dichtesten besiedelten Gebiete Kanadas. Viele Gemeinden wüssten gar nicht, dass sie sich in einer Fallout-Risikozone befinden, heißt es in einer Aussendung.
Unterschätzte Gefahr
Dies hängt auch damit zusammen, dass frühere Szenarien entsprechende Gefahren eher unterschätzten. Das neue Modell nutzt höher aufgelöste Wetterdaten von 2021 und soll so genaue Prognosen liefern wie noch nie. Dadurch ermittelte Philippe für Nordamerika, dass bei einem Angriff auf alle Abschussanlagen ein bis zwei Millionen Menschen durch die akute Strahlenbelastung sterben würden. Durch den Fallout, also radioaktiven Staub und sauren Regen, wären weitere 300 Millionen Menschen aufgrund von Strahlendosen gefährdet, die mindestens 1.000-mal höher wären als der derzeitige Jahresgrenzwert.
Karten zeigen in dem Bericht, an welchen Orten das Risiko hoch ist und auf welch immense Fläche es sich beim Worst-Case-Szenario ausbreitet. Das Thema wird aus mehreren wissenschaftlichen und sozialen Blickwinkeln betrachtet und in Podcasts und einem Video aufgearbeitet. Die Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Folgen für Nordamerika und geht kaum auf jene für andere Weltregionen ein.
Zum Kernwaffenarsenal gehören etwa 3.700 Waffen, von denen 1.700 für die militärische Nutzung bereitstehen. Der Rest ist unter der Aufsicht des Energieministeriums eingelagert. Russland dürfte über ähnlich große Waffenmengen verfügen, daneben haben auch Frankreich und Großbritannien einsatzbereite Atomwaffen. Zu den weiteren Staaten mit Atomwaffen gehören China, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea.
Plädoyer gegen Aufrüstung
Die Risiken eines tatsächlichen Angriffs auf die Anlagen in den USA sind immens und wurden in den Umweltverträglichkeitsberichten, die das geplante Waffenupdate begleiteten, nicht bewertet, wird im zugehörigen Leitartikel von "Scientific American" kritisiert. Im Kommentar werden die für Land, Luft und Seeweg angepassten Kernwaffen als "ungewollt, unnötig und unsicher" bezeichnet und als selbst angebrachtes Damoklesschwert, das "das Leben auf der Erde für das kommende Jahrhundert bedroht".
"Diese Karten vermitteln eine klare Botschaft, der die vielen Fachleute für nukleare Sicherheit und Umwelt, mit denen wir gesprochen haben, zustimmen: Diese Risiken sollten wir nicht eingehen", so Chefredakteurin Laura Helmuth. "Wir müssen aus der Vergangenheit lernen und von einem Kurs abrücken, der die Zukunft der Menschheit gefährden könnte."
Der Kommentar plädiert dafür, dass Nuklearwaffen nur in einer Anzahl existieren sollten, die den Gebrauch von Nuklearwaffen durch andere verhindert. Der ehemalige US-Verteidigungsminister William J. Perry betonte vor sieben Jahren, als die Pläne zur Modernisierung erstmals aufkamen, dass die USA und Russland bereits ein atomares Wettrüsten hinter sich hätten: "Es gibt nur einen Weg, einen Rüstungswettlauf zu gewinnen: Indem man sich weigert zu rennen." (sic, 14.11.2023)