Allzu viel Sachverhalt lässt die Entscheidung nicht erkennen, nur dass ein Arbeitnehmer bei einem Arbeitsunfall schwer verletzt wurde und von seinem Arbeitgeber – wie es die Regel ist –, aber auch von seinem Kollegen Schadenersatz begehrte, und zwar knapp 100.000 Euro. Einen Kollegen in Anspruch zu nehmen, ist selten, weil rechtlich schwer zu begründen, war in diesem Fall aber erfolgreich.

Gerichtshammer auf Banknoten
Der Verunfallte begehrte Schadenersatz – nicht nur vom Arbeitgeber, sondern auch vom Kollegen.
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Kein "echtes Handeln auf eigene Gefahr"

Nicht nur der Kollege, sondern auch der Verunfallte hatten bei der Arbeit Schutzpflichten missachtet, was zum Arbeitsunfall führte. Der Kollege argumentierte zum einen, der Verunfallte habe auf eigene Gefahr gehandelt – weil er sich selbst nicht an die Arbeitnehmerschutzvorschriften gehalten habe) und könne von ihm daher keinen Schadenersatz verlangen. Dem erteilte der Oberste Gerichtshof (OGH, 17.11.2023, 8ObA68/23t) eine Absage: Wer zum eigenen Unfall durch Missachtung von Schutzpflichten beiträgt, hat zwar Mitschuld. Das kann den Schadenersatzanspruch mindern, aber nicht automatisch zur Gänze ausschließen.

Arbeitnehmerschutzpflichten nicht nur für Unternehmen

Zum anderen war der Kollege der Ansicht, die hier missachtete Arbeitnehmerschutzvorschrift richte sich nur an den Arbeitgeber, nicht aber an ihn als Kollegen. Es ging konkret um die Arbeitsmittelverordnung, die die Benutzung bestimmter Arbeitsmittel wie Kräne und Zentrifugen, ihre Beschaffenheit, die Sicherung von Gefahrenzonen, das geschützte Verlegen von Leitungen etc. regelt.

Auch das sieht der OGH anders: Nach § 15 Abs 1 Satz 1 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen "die zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Integrität und Würde nach diesem Bundesgesetz (…) gebotenen Schutzmaßnahmen anzuwenden, und zwar gemäß ihrer Unterweisung und den Anweisungen des Arbeitgebers". Dieser Satz sagt noch nichts darüber aus, ob es um den eigenen Schutz oder auch um den Schutz anderer ArbeitnehmerInnen geht.

Allerdings wurde mit § 15 ASchG Artikel 13 der europäischen Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 89/391/EWG umgesetzt. Diese Richtlinie stellt eindeutig klar, dass jeder "verpflichtet (ist), nach seinen Möglichkeiten für seine eigene Sicherheit und Gesundheit sowie für die Sicherheit und die Gesundheit derjenigen Personen Sorge zu tragen, die von seinen Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind". Somit sind auch Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen Schutzobjekt der unionsrechtlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften. Weil Gesetze, mit denen europarechtliche Richtlinien in das österreichische Recht umgesetzt werden, "richtlinienkonform" ausgelegt werden müssen, folgt daher für das ASchG: Sowohl dieses Gesetz als auch die Arbeitsmittelverordnung sind auch von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im Verhältnis zueinander zu beachtende Schutzgesetze.

Wenn also ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin eine Arbeitnehmerschutzvorschrift verletzt und dadurch zum Unfall eines Kollegen oder einer Kollegin beiträgt, kann eine Schadenersatzklage erfolgreich sein. (Kristina Silberbauer, 6.2.2024)