Derartige Bilder sieht man bei Protesten innerhalb Chinas nie. Die tibetische Fahne ist dort verboten, es kommt nur selten zu Demos. Im Exil veranstalten NGOs häufig Solidaritätskundgebungen, wie etwa hier in Genf im Jänner.
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In den vergangenen Wochen ist es im Osten von Tibet zu seltenen Massenprotesten gekommen. Dabei gingen in und um die Stadt Dege, die in der chinesischen Provinz Sichuan liegt, über mehrere Tage hunderte Menschen auf die Straßen, um gegen den Bau eines Megastaudamms zu protestieren. Mehr als tausend Tibeter und Tibeterinnen sollen im Zuge dessen von der chinesischen Polizei verhaftet worden sein. Manche der friedlich protestierenden Menschen sollen laut Radio Free Asia (RFA) geschlagen worden sein.

Auslöser für die Proteste ist ein geplantes Wasserkraftwerk am Drichu-Fluss (Chinesisch: Jinsha), der in den Jangtse-Fluss mündet. Jenes Kraftwerk ist Teil eines 13-stufigen Wasserkraftkomplexes mit einer geplanten Gesamtkapazität von knapp 14 Gigawatt. Zum Vergleich: Das Werk am Dreischluchtendamm hat rund 22 Gigawatt.

Das Projekt würde mehrere Dörfer überfluten, auch sechs buddhistische Klöster wären gefährdet. Darunter befindet sich das Wontoe-Kloster mit seinen einzigartigen Wandmalereien aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Laut "Newsweek" war das Dammprojekt 2012 genehmigt worden, nun sollte es anscheinend ernst werden.

Am 14. Februar versammelten sich rund 300 Menschen vor dem lokalen Regierungssitz in Dege, wie RFA berichtete. Sie forderten den Stopp des Baus und der Zwangsumsiedelungen von dort ansässigen Menschen.

Wasserwerfer und Schlagstöcke

Derartige Proteste sind vor allem in von Tibetern besiedelten Gebieten in China äußerst selten; noch seltener gelangen Berichte darüber nach außen. Rund eine Woche nach der ersten Versammlung kam es zu einem noch größeren Protest im Ort Wangbuding, der von den Überflutungen direkt betroffen wäre. Mönche aus den umliegenden Klöstern und Dorfbewohner hätten sich versammelt, um erneut zu protestieren. Dabei sollen sie auch einen Eid abgelegt haben: Egal, was passiere, man würde nicht zurückweichen. Das berichtet der tibetische Autor Jamyang Phuntsok auf Instagram. Seine Familie stammt aus der Region, er verweist auf eine lokale anonyme Quelle. Phuntsok selbst lebt im indischen Exil.

Daraufhin soll die Polizei laut diversen Berichten mit Pfeffersprays, Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen die Menschen vorgegangen sein. Mehr als tausend Personen wurden demnach festgenommen. Ein Mönch des Wontoe-Klosters musste ins Krankenhaus gebracht werden. Einige Tage nach dem Clampdown sollen laut RFA rund 40 Personen freigelassen worden sein. Über den Verbleib der vielen anderen Demonstranten ist nur wenig bekannt. Aufgrund der Menge sollen sie in der Region auf verschiedene Gefängnisse aufgeteilt worden sein, so RFA. Sie waren aufgefordert worden, ihr eigenes Essen und Bettzeug mitzubringen.

Wertvolle Wandmalereien in Gefahr

Im Wontoe-Kloster leben heute rund 160 Mönche, wie "High Peaks Pure Earth" berichtet. Auch chinesische Forscher haben in den vergangenen Jahren die wertvollen Fresken bearbeitet. Die Malereien haben viele Jahrhunderte der Kriege und auch die chinesische Kulturevolution überlebt und gelten somit als einzigartig in der Region.

"Sie werden unschätzbare tibetische Wandgemälde fluten, aber dann nach Europa reisen, um sich dort vor der Mona Lisa anzustellen“, kritisiert Phuntsok auf Instagram. Auch von Tibet-Vereinen weltweit hagelte es Kritik. Die International Campaign for Tibet kritisierte "die zerstörerische Politik Pekings in Tibet". Penpa Tsering, Präsident der – international nicht anerkannten – tibetischen Exilregierung bezeichnete die "Missachtung der Rechte der Tibeter" als "in jeder Hinsicht inakzeptabel".

Die Direktorin von Human Rights Watch China, Maya Wang, betonte, dass Menschen, die Informationen nach außen tragen, sich selbst in große Gefahr begeben. "Was wir jetzt sehen, sind eigentlich typische Szenen der Unterdrückung in Tibet." Auch Phuntsok beschreibt jenes Phänomen. Nur eine Woche vor den Protesten habe er noch seinen Eltern ein Video des lokalen TV-Senders über die Heimat gezeigt: Schöne Landschaften, traditionelle Dörfer und hübsche Klöster sieht man da, schreibt er. Doch die Proteste seien eine Gelegenheit, die wahre Realität in Tibet zu sehen.

Am Sonntag jährt sich der Aufstand von 1959, der zur Flucht des Dalai-Lamas nach Indien geführt hat, zum 65. Mal. (Anna Sawerthal, 5.3.2024)