Bei der Abschlussveranstaltung der diesjährigen Tagung des Nationalen Volkskongresses schmökert Präsident Xi Jinping in Dokumenten.
EPA/ANDRES MARTINEZ CASARES

"Quantitative Textanalyse" nennt man eine Methode, um der Bedeutung von Texten auf die Spur zu kommen. Sie kann dann besonders hilfreich sein, wenn Dokumente und Sprecher sich eher unklar ausdrücken wollen. So zum Beispiel geschehen bei den "Zwei Sitzungen" in Peking. Spitzenreiter beim Arbeitsbericht von Premierminister Li Qiang waren die Begriffe "hochqualitative Entwicklung" und "Sicherheit".

Böse Zungen sprechen bei den "Zwei Sitzungen" vom chinesischen Scheinparlament, das den Wirtschaftsfahrplan der obersten Führungsriege abzusegnen hat. Offiziell steht der Begriff für die jährlich fast parallel stattfindende Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses (NVK) und des Ausschusses der Politischen Konsultativ-Konferenz des chinesischen Volkes (PKKCV). Am Montag geht das Großereignis in Peking zu Ende. Chinas Präsident und Chef der alles kontrollierenden Kommunistischen Partei, Xi Jinping, sicherte sich bei der Abschlussveranstaltung noch mehr Macht über sein Kabinett, den Staatsrat, zu. Und das Ereignis ging erstmals ohne eine Pressekonferenz über die Bühne. Auch dies ein Zeichen, das von Korrespondenten und China-Beobachtern registriert und eifrig interpretiert wurde.

Moderate Ziele

Um es kurz zu machen: China soll dieses Jahr um fünf Prozent wachsen, die Zahl der Arbeitslosen bei zwölf Millionen liegen, und das Militärbudget um 7,2 Prozent steigen. All dies sind zunächst eher "Nothing-Burger", wie man nichtssagende Nachrichten im Englischen gern verballhornt: Fünf Prozent Wachstum gilt als eine Standardgröße für das chinesische Bruttoinlandsprodukt – nicht wenig, aber auch nicht fulminant für eine Volkswirtschaft, die noch immer viel Aufholpotenzial zu entwickelten Nachbarn wie Japan oder Südkorea hat.

Die Steigerung des Militärbudgets klingt stets bedrohlich, wird aber seit Jahrzehnten in etwa dieser Größenordnung angehoben. Nach wie vor liegen die chinesischen Verteidigungsausgaben bei rund einem Drittel des vermeintlichen Konkurrenten USA.

Unsicherheit wegen Taiwan

Dass der Begriff "Sicherheit" so oft fiel, deutet aber durchaus darauf hin, dass die Situation deutlich angespannter ist als noch vor einigen Jahren. Die Vereinigung der Insel Taiwan mit dem Festland ist erklärtes Ziel von Xi. Dass die Insel vom Westen aktuell aufgerüstet wird, um den Preis hochzuhalten, den China im Fall einer militärischen Invasion zahlen muss, dürfte im Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai mit Argwohn registriert werden.

Noch dazu schwelt der Handelskrieg zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt weiter. Mit dem "Chip-Embargo" wollte Washington die Volksrepublik von modernsten Halbleiterprodukten abschneiden. Peking konterte im September vergangenen Jahres mit einem 40 Milliarden US-Dollar schweren Investitionspaket in den Sektor, um die heimische Produktion anzukurbeln. Dies hat Premierminister Li Qiang unter dem Schlagwort "hochqualitative Entwicklung" subsumiert.

Auf die Party folgt der Kater

Im Politbüro dürfte man wissen, dass die Wirtschaft des Landes ein zweites Infrastrukturpaket wie 2010 nicht mehr gut vertragen kann. Damals machte Peking mehrere Hundert Milliarden US-Dollar locker, um im ganzen Land Zugstrecken, Bahnhöfe und Flughäfen zu errichten. Das hievte nicht nur die chinesische, sondern die globale Wirtschaft aus einem Loch. Mit bis zu zehn Prozent wuchs das Bruttoinlandsprodukt damals. Nach der Party aber folgte der Kater, unter dem das Land jetzt noch leidet. Die Verschuldung erreichte einen internationalen Rekordwert. Das trifft zum einen die Immobilienbranche hart. Aber auch die Provinzen gelten als überschuldet.

Am vergangenen Wochenende aber trafen sich auch mehrere Provinzgouverneure des "Rostgürtels", also jener Gegenden in Nordchina, in denen besonders viel Stahl und Beton produziert wird, mit Bankern der staatlichen Institutionen, um über eine Umschuldung zu beraten. Die Schuldenlast der Lokalregierungen wird auf 13 Billionen US-Dollar geschätzt.

Auch das verdeutlicht, dass das Land nicht mehr einfach die "alte Medizin" schlucken kann. Das Wachstum des 21. Jahrhunderts muss aus der Hochtechnologie kommen.

Schließlich hatten internationale Kapitalanleger noch auf ein Signal gehofft, dass es mit dem schwer gebeutelten chinesischen Aktienmarkt nun wieder aufwärtsgehen könnte. Tatsächlich waren die Kapitalströme in den ersten Wochen dieses Jahres seit langem wieder leicht positiv für China. Für einen erneuten China-Boom aber wäre vor allem wieder Vertrauen notwendig. Die Ergebnisse der "Zwei Sitzungen" aber zeigen: China öffnet sich nicht (wieder), es wird noch opaker. Der Name "Xi Jinping" fiel übrigens 16 Mal – ein Rekordwert. (Philipp Mattheis, 11.3.2024)