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In "Die Unschuld" geht es um eine Mutter, die eine Lehrkraft verdächtigt, negativ auf ihren Sohn einzuwirken.
© 2023 MONSTER Film Committee

Monsterfilme haben in Japan Tradition. Spätestens seit der 33. Teil der Godzilla-Reihe bei der letzten Oscarverleihung mit dem Preis für die besten Spezialeffekte ausgezeichnet wurde, weiß man das auch in Hollywood. Regisseur Hirokazu Kore-eda kennt man in der Traumfabrik mindestens seit 2019, als er mit seinem liebevoll-lockeren Film Shoplifters über eine gaunernde Patchworkfamilie für einen Oscar nominiert wurde. Sein Sozialdrama Die Unschuld ist in gewisser Hinsicht auch ein Monsterfilm, nur ist das Monster in diesem Fall der Mensch. Aber wer genau das Monster ist – ob sogar ein Kind ein Monster sein kann –, das lässt der aus verschiedenen Perspektiven erzählte Film seine Zuschauer immer wieder hinterfragen.

Wer ist das Monster? 

Der zwölfjährige Minato (Soya Kurokawa) bereitet seiner alleinerziehenden Mutter Saori (Sakura Andō) Sorgen. Mal kommt er nur mit einem Schuh nach Hause, dann mit Verletzungen, irgendwann kommt er überhaupt nicht mehr heim. Man ist sich sicher, irgendetwas stimmt nicht bei diesem Bub. Minato selbst denkt, er sei gar kein Mensch. Sein Lehrer Herr Hori (Eita Nagayama) habe ihm nämlich erzählt, man hätte ihm ein Schweinehirn implantiert. Mutter Saori glaubt, dass Herr Hori ihren Sohn misshandelt – dieser weist aber jede Schuld von sich und behauptet, Minato würde andere Kinder schikanieren, vor allem den befreundeten Mitschüler Yori (Hinata Hiiragi). In Rückblicken werden auch die Perspektiven von Herrn Hori und Minato selbst erzählt und es wird klarer, wie sehr individuelle Wahrnehmungen auf die Realität einwirken.

MONSTER - Official UK Trailer - In Cinemas Now
Picturehouse

Mit jeder weiteren Erzählperspektive kommt eine Ebene hinzu, durch die die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen und ihre verletzliche Existenz deutlich wird. Diese verwinkelte Erzählweise kann man mit Akira Kurosawas Rashomon vergleichen, in dem auch mehrere Erzähler Widersprüchliches berichten, wodurch die objektive Wahrheit einer Welt infrage gestellt wird. Jeder Charakter wirkt so, als ob er ein Geheimnis hat, irgendetwas bleibt ständig im Verborgenen. Ein Monster, das kann hier jeder werden, der zu einem dämonisiert wird – und meistens dämonisieren Menschen etwas, weil sie es nicht verstehen. Als Zuseher ist man ständig mit dem Dilemma konfrontiert, wem man sein Mitgefühl schenken will.

Monströs berührend

Untermalt wird dieses Gefühl der subtilen Brutalität von zarter Klaviermusik, die der im letzten Jahr verstorbene Ryūichi Sakamoto komponiert hat. Hirokazu Kore-eda hatte nur mehr schriftlich mit diesem kommuniziert, weil Sakamoto am Sterbebett nicht mehr sprechen konnte. Weil er auch keine Kraft mehr für eine vollständige Filmmusik hatte, wurden es letztlich nur zwei neu komponierte Lieder.

Der Grund, warum der Film in Cannes 2023 mit der Queer Palm ausgezeichnet wurde, schwingt eher subtil mit. Gezeigt wird nämlich auch eine Freundschaftsbeziehung zwischen zwei Kindern, die sich lieber haben, als es den konservativen Eltern recht ist – noch bevor sie ihre Sexualität erforschen. Erzählt wird aber vor allem eine Geschichte über das menschliche Grundrecht, glücklich zu sein, und wie schwer es ist, die Gefühle von Kindern zu verstehen. Vor allem Erwachsene können das oft nicht – und dann wird immer jemand zum Monster. (Jakob Thaller, 21.3.2024)