Ultranationalistische Kanäle auf Telegram zögerten nach dem Anschlag am Freitagabend nicht lange damit, ihre Sicht des Geschehenen zu verbreiten: Hinter dem Attentat, so der Tenor, stecke eine pro-ukrainische Verschwörung.
APA/AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Wolodymyr Selenskyj trägt eine militärgrüne, kaftan-ähnliche Robe, ein Turban ist um seine Stirn gewickelt, in der Hand hält er einen goldenen Revolver. Eine kleine Videokamera filmt ihn und einen vermummten Soldaten vor einer Flagge, auf der der ukrainische Dreizack in der für den Islamischen Staat üblichen schwarz-weißen Farbgebung abgebildet ist. In Selenskyjs Augen liegt ein böser, fast mordlustiger Blick.

Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Szenerie nicht um tatsächliche Aufnahmen eines Bekennervideos der ukrainischen Regierung, sondern um ein Meme, das seit Samstag auf russischen und pro-russischen Telegram-Kanälen kursiert. Nach dem brutalen Terroranschlag auf die Moskauer Konzerthalle Crocus City Hall zögerten vor allem ultranationalistische Kanäle nicht lange damit, ihre Sicht des Geschehenen zu verbreiten: Hinter dem Attentat, so der Tenor, stecke eine pro-ukrainische Verschwörung.

Wer an dieser Verschwörung beteiligt ist, variiert je nach Interpretation. Regelmäßig sehen die Verbreiter des Materials die USA als Drahtzieher hinter dem Attentat. Auf dem Kanal "Denazifizierung UA" etwa kursieren Aufnahmen von Barack Obamas kürzlichem Besuch bei Großbritanniens Premier Rishi Sunak. "Zufall? Obamas CIA sponsorte den IS. CIA und (der britische Geheimdienst, Anm. d. Redaktion) MI6 haben Nordstream gesprengt", heißt es unter einem der Fotos. Der Kanal "Kommando Kovpaka" wiederum, der die "Befreiung der Ukraine vom Bandera-Schmutz" zum Ziel ausschreibt, verbreitet einen bereits 2017 gehaltenen Vortrag eines russischen Geopolitikexperten, der die USA als Finanzierer globalen Terrors bezeichnet.

Klare Schlagrichtung

So diffus dieses Material auch ist, die Schlagrichtung ist klar: Der IS tritt keineswegs als eigenständiger Akteur auf. Stattdessen wird ein Narrativ konstruiert, in dem der islamistische Terrorismus nur als Marionette agiert, deren Fäden von mächtigeren Hintermännern gezogen werden. Mal sind das die USA, und mal eben direkt der ukrainische Präsident.

Die ausgebrannte Crocus City Hall nach dem Anschlag von Freitagabend.
EPA/MAXIM SHIPENKOV

Solche Theorien fallen auf fruchtbaren Boden, denn sie bleiben in alle Richtungen anknüpfungsfähig. Egal ob angebliche Indizien auf eine Involvierung islamistischer Terroristen oder auf eine vermeintliche Beteiligung der Ukraine, wie sie Vertreter russischer Staatsmedien mittlerweile verbreiten, hindeuten – jegliche Information kann zur Unterstützung der bewusst vage und offen gehaltenen Theorie ausgelegt werden.

Widersprüchliche Aussagen

So fügen sich auch brutale Szenen ins verschwörerische Bild, die seit Samstag auf Telegram kursieren. Mehrere ultranationalistische Kanäle veröffentlichten Aufnahmen der Festnahme eines angeblich an dem Attentat beteiligten Terroristen. Der Mann, laut seiner Aussage 1998 geboren und zentralasiatischer Herkunft, ist übel zugerichtet, die linke Gesichtshälfte zugeschwollen, eine Wunde läuft quer über die Nase. Immer wieder wird er von Männern in Militäruniformen und schusssicheren Westen mit Aufschrift "Polizei" zu Boden gedrückt und nach den Drahtziehern hinter dem Anschlag befragt.

Seine Antwort ist vage und widersprüchlich: Nachdem er zunächst angibt, von einem anonymen Auftraggeber über Telegram kontaktiert worden zu sein, erklärt er wenige Sekunden später, ihn habe der Assistent eines Online-Predigers kontaktiert und eine halbe Million Rubel (knapp 5.000 Euro) für die Ausführung des Anschlages versprochen.

Unter welchen Umständen das Video zustande kam und ob es sich bei dem am ganzen Leib zitternden Mann tatsächlich um einen Attentäter handelt, bleibt genauso unklar, wie die Identität des erwähnten Predigers. Die Nachrichtenlage wird weiterhin viel Raum lassen für Spekulationen über angebliche Hintermänner, im Dunkeln agierende Netzwerke und politische Motivationen, die auch in offiziellen russischen Medien hofiert werden. Leiden wird unter diesem medialen Zynismus vor allem eine Gruppe: Angehörige der Opfer, die sich eine ehrliche Aufarbeitung des Geschehenen wünschen. (Thomas Fritz Maier, 23.3.2024)