Gehirn, Sint-Maartenskerk, Ypres, Belgien
Das Gehirn eines Menschen aus dem zehnten Jahrhundert. Es stammt aus einem Grab auf dem Friedhof der Sint-Maartenskerk im belgischen Ypern. Die orange Farbe stammt von Eisenoxid, mit anderen Worten: Rost. Die Gehirnoberfläche ist immer noch weich und feucht.
Foto: Alexandra L. Morton-Hayward/ University of Oxford

Stirbt ein Mensch, hinterlässt der Verwesungsprozess je nach den Umständen normalerweise schon bald kaum mehr als Knochen, Zähne, Haare und Fingernägel. Innere Organe, Muskeln und Haut haben dem Zahn der Zeit dagegen nur wenig entgegenzusetzen. Laut Forensikern zählt das Gehirn dabei zu den ersten Körperteilen, die dem Fäulnisprozess zum Opfer fallen. Ab und zu jedoch entgeht Weichteilgewebe dem Verfall. Spezielle Umweltbedingungen können in einzelnen Fällen sogar Gehirne konservieren.

Weltweite Bestandsaufnahme

Doch das gilt als außerordentliche archäologische Rarität. So zumindest lautete bisher die allgemein verbreitete Ansicht. Wie selten das tatsächlich vorkommt, wollte ein Team um Alexandra Morton-Hayward, forensische Anthropologin an der Universität Oxford, nun genauer wissen und machte sich deshalb an eine großangelegte weltweite Inventur. Dabei erlebte die Gruppe eine Überraschung: Nicht nur, dass deutlich mehr Gehirne als bisher gedacht die Zeiten überdauert haben – bei einem großen Teil davon ist der Grund dafür völlig rätselhaft.

Für ihre Studie sichteten Morton-Hayward und ihre Kolleginnen und Kollegen sorgfältig die gesamte veröffentlichte wissenschaftliche Literatur, die sie in die Finger bekommen konnten. Sie analysierten Grabungsberichte und wandten sich an Historikerinnen und Historiker auf der ganzen Welt. Am Ende hatten die Forschenden insgesamt 4.405 erhaltene menschliche Gehirne von 213 Fundorten auf allen Kontinenten (mit Ausnahme der Antarktis) dokumentiert.

Gehirn, First Baptist Church, Philadelphia
Dieses vollständige, aber geschrumpfte Gehirn gehörte einem Mann, der auf dem Friedhof der First Baptist Church von Philadelphia (Pennsylvania, USA) begraben wurde. Der Mann dürfte der verheerenden Gelbfieberepidemie Ende des 18. Jahrhunderts zum Opfer gefallen sein. Auf dem Friedhof der 1698 gegründeten Kirchengemeinde wurden insgesamt mehr als 40 erhaltene Gehirne gefunden.
Foto: Alexandra L. Morton-Hayward/ University of Oxford

Unterschiedliche Bedingungen

Die katalogisierten Gehirne waren unter zahllosen unterschiedlichen Umständen zutage gekommen: Sie stammten aus Massengräbern aus dem Spanischen Bürgerkrieg, von Toten aus den Sandwüsten des Alten Ägypten, von Opfern von Inka-Ritualen, die vor fast 600 Jahren am erloschenen Vulkan Llullaillaco stattgefunden hatten, oder von Moorleichen, die im 3. Jahrhundert vor Christus in skandinavischen Torfmooren versenkt worden waren.

Die Umweltbedingungen, unter denen die Gehirne die Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert hatten, könnten dementsprechend kaum unterschiedlicher sein. Die meisten Gehirne (38 Prozent) wurden durch Dehydrierung konserviert, in der Regel in heißen Gegenden wie Wüsten. So blieben beispielsweise rund 500 Gehirne in einer über 6.100 Jahre alten ägyptischen Nekropole erhalten.

Ein Friedhof in Paris

Eine anderer Prozess ist als Verseifung (Saponifikation) bekannt. Dabei werden unter bestimmten Umständen Fette im Körper in eine wachsartige Masse verwandelt. Auf rund 30 Prozent der Gehirne traf dies zu; interessanterweise wurden fast alle auf einem mittelalterlichen Friedhof in Paris entdeckt. Gefrorene und durch sogenanntes Gerben (etwa in Torfmooren) haltbar gemachte Gehirne nahmen mit jeweils 1,6 Prozent nur einen vergleichsweise kleinen Anteil ein.

Gehirnfragmente, Arbeitshausfriedhof, Bristol, Großbritannien,
Fragmente des Gehirns einer Person, die vor etwa 200 Jahren auf einem viktorianischen Arbeitshausfriedhof in Bristol, Großbritannien, beigesetzt wurde. In dem stark durchfeuchteten Grab waren ansonsten ausschließlich die Knochen, aber keine anderen Weichteilgewebe entdeckt worden.
Foto: Alexandra L. Morton-Hayward/ University of Oxford

Die 1.328 restlichen Gehirne – darunter auch das mit mehr als 12.000 Jahren älteste Gehirn – wurden durch einen bisher noch unbekannten Mechanismus konserviert. Besonders auffällig und rätselhaft war zudem folgende Entdeckung: Von den 4.405 Gehirnen waren 1.308 – also fast ein Drittel der Gesamtanzahl – das einzige Weichteilgewebe, das sich bei den jeweiligen Toten unter den knöchernen Überresten finden ließ.

Liegt es an den Gehirnen?

All diese Gehirne hatten jedoch ansonsten wenig gemeinsam: Sie wurden in Einzel- und Massengräbern, in sehr flachen Gräbern, in Holz- und Bleisärgen, in Schiffswracks, Grabhügeln und sogar in den Köpfen von Enthaupteten gefunden. Diese großen Unterschiede und die Tatsache, dass häufig sonst keine Weichteile erhalten blieben, deuten darauf hin, dass die Konservierungsprozesse, die dahinterstecken, mit einer oder mehreren spezifischen Eigenschaften des zentralen Nervensystem zu tun haben.

"Das Fehlen einheitlicher Umweltfaktoren weist darauf hin, dass etwas im Gehirn selbst, vielleicht seine biochemische Zusammensetzung während des Lebens, diesem unbekannten Mechanismus zugrunde liegt und seine Erhaltung nach dem Tod erleichtert", sagte Morton-Hayward. Bisher noch rätselhafte Wechselwirkungen zwischen den Molekülen im Gehirn und etwas in der Umgebung könnten demnach eine wichtige Rolle spielen.

Alexandra Morton-Hayward, Universität Oxford, Gehirne
Alexandra Morton-Hayward, forensische Anthropologin an der Universität Oxford, hat ein Faible für Gehirne.
Foto: Graham Poulter/ University of Oxford

Hypothetische Chemie

So könnten Proteine, Lipide und Zucker im Gehirn in Gegenwart bestimmter Metalle wie beispielsweise Kupfer (das im Gehirn reichlich vorhanden ist) miteinander reagieren und stabile polymerisierte Makromoleküle bilden, spekuliert das Team im Fachjournal "Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences". Noch handelt es sich jedoch nur um eine Hypothese.

"Unser zusammengestelltes Archiv stellt den ersten Schritt zu einer umfassenden, systematischen Untersuchung alter Gehirne dar", sagt Morton-Hayward. "Unsere Inventur zeigt aber jetzt schon deutlich, dass ein Gehirn unter bestimmten Umständen lange Zeit erhalten bleibt. Ob diese Umstände umweltbedingt sind oder mit der einzigartigen Biochemie des Gehirns zusammenhängen, ist der Schwerpunkt unserer weiteren Arbeit." (Thomas Bergmayr, 30.3.2024)