Die Formel kennt mittlerweile jeder gute Autokrat: Passt dir die Grenzziehung nicht, dann wühle im Archiv, und es wird sich wahrscheinlich eine Version aus dem Jahre Schnee finden, die dir besser gefällt. Als kleiner Bonus lässt sich mit der Kriegstrommel auch noch von innenpolitischen Problemen ablenken. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hat ebenfalls im Kartenarchiv gekramt und propagiert seit dem vergangenen Jahr eine Karte, wonach rund zwei Drittel des Staatsgebiets von Guyana zu Venezuela wandern sollten.

Über die neue Grenzziehung ließ er in einem umstrittenen Referendum abstimmen. Eine überwältigende Mehrheit von 96 Prozent soll sich – wenn man den Angaben Maduros glaubt – damals für die Teilannexion ausgesprochen haben. Seither propagierte er immer wieder Karten mit der neuen Grenzziehung. Venezuelas Kinder sollen künftig in der Schule nur mehr das Großvenezuela inklusive der Region Essequibo lernen.

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Im Gegensatz zu den international anerkannten Grenzen Guyanas von 1899 will Maduro jene von 1777 verwirklicht sehen. 1899 hatte ein Schiedsspruch eines von London und Washington initiierten Tribunals in Paris die Grenzen der damals britischen Kolonie bestätigt. Tatsächlich gab es kurz vor der Unabhängigkeit Guyanas 1966 nochmals ein Abkommen, welches Guyana und Venezuela dazu auffordert, eine Verhandlungslösung für die unterschiedlichen Auffassungen zur Grenzziehung zu finden. Von einer friedlichen Verhandlungslösung ist eine einseitige Annexion aber freilich weit entfernt. Noch hat Maduro immerhin keine Soldaten einmarschieren lassen. Am Mittwoch aber hat er das Gesetz zur Eingliederung Essequibos als 24. Teilstaat von Venezuela offiziell verabschiedet. "Die Entscheidung, die das venezolanische Volk in dem konsultativen Referendum getroffen hat, wird in allen ihren Teilen erfüllt werden, und mit diesem Gesetz werden wir Venezuela auf der internationalen Bühne verteidigen", sagte Maduro am Mittwoch.

Guayanas Außenministerium erklärte, das venezolanische Gesetz sei ein Versuch, "mehr als zwei Drittel des Hoheitsgebiets von Guyana zu annektieren und es zu einem Teil Venezuelas zu machen". In der Erklärung warnt Guyana Venezuela und die Vereinten Nationen, dass es die "Annexion, Beschlagnahmung oder Besetzung irgendeines Teils" seines Staatsgebiets nicht tolerieren werde.

IGH-Urteil ausständig

Etwas überraschend kam der durchaus provokante Schritt vor allem deshalb, weil zuletzt eigentlich mehr Ruhe in die Sache gekommen war. Auf Initiative südamerikanischer Nachbarn hatten sich Maduro und sein guyanischer Amtskollege Irfaan Ali im Dezember im Karibikstaat St. Vincent und die Grenadinen getroffen und Hände geschüttelt. Eine Lösung fand man zwar nicht, aber man einigte sich darauf, keine Gewalt anzuwenden und die Spannungen nicht eskalieren zu lassen. "Friede und Liebe", sagte Maduro damals, als er Geschenke an Ali überreichte. Maduros Schritt ist nun das Gegenteil einer Freundschaftsgeste.

Handshake.
AFP/Venezuelan Presidency/MARCEL

Dabei sollte noch heuer der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Urteil fällen, wem denn nun das Land, vor allem aber auch das erdölreiche Gebiet vor dem Festland, gehört. Offensichtlich rechnet sich Venezuela keine großen Erfolgschancen dabei aus. Denn schon im Vorfeld hatte das Land angekündigt, die Rechtsprechung des IGH nicht anzuerkennen. Ein militärisches Eingreifen Venezuelas wäre jedenfalls nicht nur ob der internationalen Ächtung und drohenden Sanktionen für Venezuela äußerst riskant. Die USA hielten bereits gemeinsame Militärübungen mit Guyana ab und sehen Guyana als Verbündeten. Brasilien verlegte ebenfalls bereits Truppen in die Grenzregion und entsandte so ein deutliches Signal in Richtung Caracas. Interessanterweise hatte Maduros Vorgänger Hugo Chávez den Grenzstreit mit Guyana im Jahr 2004 auf Anraten Fidel Castros übrigens für beendet erklärt.

Brasilien verlegte gepanzerte Fahrzeuge in die Grenzregion.
REUTERS/BRUNO KELLY

Guyana – das aufgrund der neuesten Ölfunde ein noch nie dagewesenes Wirtschaftswachstum erlebt – hat es in Sachen Nachbarn aber insgesamt nicht leicht. Denn neben dem Ärger im Westen des Landes beansprucht auch im Osten der Nachbar Suriname ein Dreieck in der Größe Tirols für sich, das Guyana weiter schrumpfen lassen würde. Streitpunkt ist hier die Frage nach dem Quellfluss, also danach, welcher der beiden Zuläufe des Grenzflusses Coantijn der Hauptzulauf ist. Wenig überraschend beansprucht auch dort jeder Staat jene Grenzziehung für sich, die ihm mehr Land zusichert. Noch dazu hat der IGH Suriname einst die komplette Kontrolle über den Grenzfluss zugesagt. Und so trat der international recht seltene Fall ein, dass der Grenzfluss nicht entlang einer Tiefwasserlinie geteilt wurde, sondern gänzlich Guyanas Nachbarn zugeschlagen wurde – und somit auch die Navigationsrechte auf dem Fluss und die Ausbeutung der Bodenschätze im Flussboden. Diesmal hofft Guyana auf einen besseren Ausgang. (Fabian Sommavilla, 4.4.2024)