Musik ist eine feine Sache. Kein Wunder also, dass Gesang und Musizieren zu den ältesten kulturellen Errungenschaften der Menschheit zählen. Wie lange der Mensch bereits Musik macht, lässt sich zwar nur schwer nachvollziehen. Aber wenn man die ältesten bekannten Musikinstrumente zur Beurteilung heranzieht, dürften es schon mindestens 35.000 Jahre sein. So alt ist zumindest jene Flöte aus dem Speichenknochen eines Geierflügels, die 2009 in der Höhle Hohler Fels bei Ulm entdeckt wurde.

Was Musik heute mit uns anzustellen vermag, ist zwar deutlich besser erforscht, aber die Ergebnisse fallen nicht immer eindeutig aus. Wenig umstritten ist jedenfalls, dass Musikkonsum viele unterschiedliche psychische, physische und soziale Auswirkungen hat: Musik kann unsere Kreativität beleben, Stress reduzieren, Musik wird in der Medizin eingesetzt, und sie fördert den sozialen Zusammenhalt, zum Beispiel auf der Tanzfläche.

Musik, Sängerin, Melek Mosso
Die türkische Sängerin Melek Mosso trällert auf einer Bühne in Istanbul aus voller Kehle in ihr Mikrofon. Grundlegende Gefühle, die mit der Sprache der Musik ausgedrückt werden, treffen weitgehend kulturunabhängig überall auf das gleiche Verständnis, das lässt sich zumindest aus früheren Studien schließen.
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Unsere emotionalen Saiten

Diese besondere emotionale Wirkung von Klängen hat jeder selbst schon am eigenen Leib erfahren – aber was genau an der Musik bringt unseren Geist zum Klingen und entlockt dem Körper so intensive Empfindungen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, hat ein Team von den Universitäten Tokio und Hiroshima in Japan systematisch untersucht, wie einzelne Musikakkorde bestimmte emotionale Saiten in uns anschlagen und wo sich diese Empfindungen im Körper am stärksten manifestieren.

Für ihre Arbeit baten die Forschenden um Tatsuya Daikoku (Universität Tokio) 527 Testpersonen zum Musikhören. Auf der Grundlage von 890 Liedern aus den US-Billboard-Musikcharts erstellte die Gruppe acht Sequenzen von vier Akkorden, die sie den Studienteilnehmern vorspielten. Im Anschluss sollten sie angeben, wo in ihrem Körper sie die Musik spürten und wie stark. Außerdem bewerteten sie aus einer Liste von Optionen ihre fünf wichtigsten emotionalen Reaktionen auf jeden Klang und gaben an, wie sehr ihnen die Musik zusagte oder missfiel.

Bauch-, Herz- und Hirnmusik

Aus der Kombination dieser Reaktionen erstellten die Forschenden eine Art Karte des Körpers mit jenen Orten, wo jede Akkordfolge am stärksten gefühlt wurde. Die im Fachjournal "iScience" präsentierten Ergebnisse zeigen, dass die Erwartungshaltung eine entscheidende Rolle spielt: Vorhersehbare Melodien, die unseren Erwartungen entsprechen, riefen Gefühle der Gelassenheit, Zufriedenheit, Nostalgie und Empathie hervor und waren vor allem im Bauchraum zu spüren.

Überraschende, unerwartete Tonfolgen lösten dagegen Empfindungen in der Herzgegend aus und bewirkten Reaktionen wie Freude und ästhetische Wertschätzung. Im Gegensatz dazu standen musikalische Sequenzen, die starke Empfindungen im Kopf auslösten, signifikant mit Gefühlen von Angst und Verwirrung in Verbindung.

Das Team um Tatsuya Daikoku von der Universität Tokio generierte für seine Studie mithilfe eines mathematischen Modells auf Basis von US-Billboard-Songs acht Akkordfolgen.
Grafik: Daikoku, Tanaka and Yamawaki/ iScience

Für die Wissenschafter bedeuten die Resultate vor allem eines: Die durch Musik ausgelösten Emotionen und Empfindungen hängen wohl eng mit der sogenannten musikalischen Interozeption zusammen, also mit der körperlichen Wahrnehmung. Daikoku und sein Team vermuten außerdem, dass diese Reaktionen mit dem psychischen Wohlbefinden in Verbindung stehen. "Musik ist nicht nur etwas, das wir mit unseren Ohren hören, sondern eine Erfahrung, die wir mit dem ganzen Körper spüren", sagte Daikoku. "Ich denke, dieses Ganzkörpergefühl ist es, was Musik wirklich ausmacht."

Eine Sache des Körpers

Mit anderen Worten: Die ästhetische Wertschätzung von Musik und die zugrundeliegenden positiven Emotionen hängen insbesondere mit den körperlichen Empfindungen zusammen, die beim Hören auftreten. "Unsere Forschungsarbeit gibt Aufschluss darüber, wie sehr musikalische Erfahrungen mit unserem Körper verbunden sind", schreibt das Team in seiner Studie. Die Arbeit könnte demnach dazu beitragen, Musik als Therapeutikum, etwa zum Stressabbau und zur Verbesserung der psychischen Gesundheit, zielgenauer einzusetzen.

Freilich konzentrierte sich diese Untersuchung auf subjektive Empfindungen und Emotionen, räumte Daikoku ein. Daher möchte sein Team in einem nächsten Schritt analysieren, wie sich quantifizierbare körperliche Reaktionen, beispielsweise Veränderungen des Herzschlags, mit der erstellten Karte der registrierten Wahrnehmungen überlagern. (Thomas Bergmayr, 4.4.2024)