"Mit jedem Tag wird es schlimmer", sagt Gilad Korngold. Vor einem halben Jahr, am 7. Oktober 2023, wurde sein Sohn Tal Shoham samt Familie von Terroristen aus dem Kibbuz Be'eri im Süden Israels nach Gaza verschleppt. Die beiden Kinder und deren Mutter wurden nach 50 Tagen befreit. Seither plagen sie Albträume und schreckliche Erinnerungen. Vom 39-jährigen Tal fehlt weiter jede Spur. Israels Regierung habe kein Interesse an den Geiseln, glaubt Korngold, der der Sohn einer Holocaust-Überlebenden aus Wien und – wie auch Tal – österreichischer Staatsbürger ist.

STANDARD: Sechs Monate sind vergangen, seit Ihr Sohn Tal verschleppt wurde. Welche Gefühle prägen jetzt Ihr Leben, nachdem sich der Schock der Anfangszeit gelegt hat – Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung?

Korngold: Auf jeden Fall Wut. Aber es ist auch immer noch ein großer Schock. Jeden Abend vor dem Einschlafen versuchen meine Frau und ich zu verstehen, was da passiert ist. Ein Mensch ist nicht gemacht dafür, so etwas zu verstehen. Ich meine, sieben Familienmitglieder sind plötzlich verschwunden – und wir mussten dafür kämpfen, dass sie zurückgebracht werden.

Gilad Korngold, dem Vater der Geisel Tal Shoham.
Gilad Korngold, dem Vater der Geisel Tal Shoham.
Gilad Korngold, Vater der Geisel Tal Shoham.
Maria Sterkl

STANDARD: Im Fall Ihrer Schwiegertochter und der Enkelkinder ist das gelungen. Tal ist immer noch in Gaza.

Korngold: Ja, und jeder Tag, der vergeht, macht es schlimmer. Ich nehme Schlaftabletten, um nachts wenigstens vier Stunden Schlaf zu kriegen. Und ich versuche, nicht an Tal zu denken. Das tut zu sehr weh. Der Kampf, die Proteste, das hilft mir. Wir müssen noch mehr Druck ausüben, um unsere Regierung dazu zu bewegen, etwas zu tun.

STANDARD: Hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu je mit Ihnen gesprochen?

Korngold: Nein. Und ich glaube auch nicht, dass es uns irgendetwas bringen würde. Er würde den Angehörigen ja doch nur sagen, was sie hören möchten. Aber in Wahrheit wollen die Machthaber in diesem Land nicht, dass die Geiseln befreit werden.

STANDARD: Warum glauben Sie das?

Korngold: Alle sagen: Die Hamas will nicht, Hamas dies, Hamas das – jeder ist jetzt Experte für die Hamas. Wir haben einen Mossad-Chef, der sagt, dass es möglich ist, einen Geisel-Deal zu bekommen. Unser Ministerpräsident müsste ihm nur mehr Raum geben, um es zu schaffen.

STANDARD: Als 2011 die israelische Geisel Gilad Shalit befreit wurde, war Israels Regierung zur Übergabe von mehr als tausend Terroristen bereit. Was ist heute anders?

Korngold: Ich sitze nicht in ihren Köpfen, ich weiß nicht, was sie bewegt. Ich habe ihnen gesagt: Wenn ihr euch nicht um die Geiseln kümmern wollt, dann gebt eure Kinder der Hamas und lasst sie dort verrecken – aber bringt mir meinen Sohn zurück.

"Netanjahu muss etwas tun"

STANDARD: Die Proteste gegen die Regierung werden breiter und lauter. Gibt Ihnen das Hoffnung?

Korngold: Natürlich. Auch wenn ich persönlich nicht glaube, dass wir jetzt Neuwahlen haben sollten. Ich habe jetzt keine Zeit für Wahlen, ich will, dass Tal freigelassen wird. Wahlkampf bedeutet, dass die Regierung an der Macht bleibt, aber sich nicht mehr engagiert. Das will ich nicht. Ich will ihn (Netanjahu, Anm.) zwingen, etwas zu tun.

STANDARD: Sie glauben nicht, dass Netanjahus Nachfolger hier mehr Druck machen würden?

Korngold: Vielleicht würden sie das, ja. Aber wir haben keine Zeit. Die Geiseln sind in Gefahr, vergangene Woche sind wieder zwei von ihnen für tot erklärt worden. Worauf wartet ihr? Die Knesset geht jetzt in Feiertagspause. Was zur Hölle gibt es zu feiern? Was habt ihr denn getan, um Urlaub zu verdienen? Sie sind Versager.

STANDARD: Als Adi und die Kinder im November befreit wurden, wie war das für Sie?

Korngold: Meine Frau und ich warteten im Krankenhaus. Sobald sie die Grenze nach Israel passiert hatten, gab man ihnen ein Telefon, damit sie uns anrufen können. Mein Enkelsohn rief mich an und fragte sofort, ob ich weiß, wo sein Hund ist. Ich sagte ihm natürlich nicht, dass sein Hund im Haus verbrannt ist, ich sagte: Warte, darüber sprechen wir, wenn wir uns sehen. Wir hatten Angst davor, wie sie aussehen würden. Wir hatten ja keine Ahnung, was ihnen in Gaza zugestoßen ist. Als sie uns im Krankenhaus sahen, rannte Naveh auf uns zu. Es war pure Freude. Yahel war in einem Schockzustand. Sie sprach nicht oder nur ganz leise. Die Terroristen hatten ihr verboten zu sprechen. Drei Wochen nach der Befreiung flüsterte sie immer noch. Jetzt ist es besser.

STANDARD: Sprechen Sie mit den Kindern über Tal?

Korngold: Wir sprechen über ihn jeden Tag. Aber im Moment ist es schlimmer, weil ihnen bewusst wird, dass ein halbes Jahr vergangen ist. Sie wissen ja ganz genau Bescheid, wie es in Gaza ist – niemand kann ihnen Märchen erzählen. Außerdem kommt Pessach bald, und sie müssen es ohne ihren Vater feiern.

STANDARD: Seit einem halben Jahr leben Sie, Adi und die Enkelkinder im Hotel, weit entfernt von Ihrem Kibbuz im Süden. Wie fühlt sich das an?

"Zuhause aus Versehen"

Korngold: Wir nennen es: Zuhause aus Versehen. Aber es ist kein Zuhause. Wir werden dort bleiben, bis Tal zurückkommt. Nicht weil wir nicht in unseren Kibbuz zurückkönnen – das könnten wir. Aber wir können meine Schwiegertochter Adi und die Enkelkinder nicht allein lassen. Wir möchten ihr helfen, zu einer Art Normalität zurückzukehren. Aber an jedem neuen Tag ist es schlimmer.

STANDARD: Wie geht es den Kindern jetzt?

Korngold: Was soll ich sagen? Eine Familie kann sich nicht von allem erholen, solange der Vater nicht da ist. Wir haben einen "Hoffnungstisch", dort zünden wir jeden Tag Kerzen an und beten für Tal. Die Kinder zeichnen oder schreiben eine Nachricht, die sie auf den Tisch legen. Das ist unser Ritual jeden Abend. Wenn es für sie schwierig wird, wenn die Erinnerungen hochkommen oder die Tränen, dann sprechen sie mit ihrer Mutter, mit niemandem sonst. Meistens passiert das nachts. Sie haben Albträume und weinen.

STANDARD: Welche Bilder kommen dann hoch?

Korngold: Die Kinder wurden aus dem Kibbuz Be'eri gekidnappt. Sie sahen alles. Mein Enkelsohn sah Leichen, er sah Vergewaltigungen – alles. Brennende Häuser. Als die Terroristen sie aus dem Schutzraum holten, war der ganze Kibbuz voll mit Terroristen. Da war keine Armee. Rund sechzig Terroristen auf ihren Motorrädern, sie lachten, rauchten Zigaretten. Sie hatten das Gefühl, der Kibbuz gehöre ihnen, und vielleicht war das auch so.

STANDARD: Das Haus, in dem Sie und Ihre Frau vor dem Krieg lebten, steht im Kibbuz Gvulot, nahe Gaza. Werden Sie je dorthin zurückkehren?

Korngold: Ich weiß es nicht. Der Kibbuz wurde zwar nicht verwüstet, aber das ganze Gebiet verbreitet einen Hauch des Todes – und das ist nichts, was bald verfliegen wird. Ich mache mir viele Gedanken darüber, was sein wird, auch mit Israel. Ich sehe, dass hier sehr schlimme Dinge passieren. Sie haben uns 25 Jahre lang angelogen über die Sicherheit des Staates, sie haben uns am 7. Oktober im Stich gelassen – und sie lassen uns jetzt auch im Stich.

STANDARD: Denken Sie darüber nach, Israel zu verlassen?

Korngold: Ja, vielleicht. Es ist sehr schwer für mich, ich lebe hier seit mehr als sechzig Jahren. Es ist das Land, das ich liebe. Aber dieses Land hat sich verändert. Die Radikalen sind jetzt an der Macht.