Neos-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre
Martina Künsberg Sarre ist seit 2019 Abgeordnete der Neos im Nationalrat und dort für Bildung und Wissenschaft zuständig.
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Wofür stehen die Parteien in Sachen Bildung? Wo gibt es inhaltliche Schnittmengen oder unüberbrückbare Differenzen? DER STANDARD interviewt vor der Nationalratswahl die Bildungssprecherinnen und Bildungssprecher der Parlamentsparteien. Den Auftakt macht Neos-Nationalratsabgeordnete Martina Künsberg Sarre.

STANDARD: In Wien eskaliert gerade ein Thema, mit dem Ihr Parteikollege Christoph Wiederkehr als Bildungsstadtrat konfrontiert ist. Durch den starken Familienzuzug von Flüchtlingen kommen pro Monat im Schnitt 350 Kinder im schulpflichtigen Alter, das entspricht 14 Klassen im Monat – und bedeutet im Herbst Containerklassen, gegen die es schon jetzt Elternproteste gibt. Auch Lehrkräfte fehlen natürlich. Was kann oder muss der Bund tun, um Wien, Pflichtschulen sind ja formal Ländersache, effizient zu helfen?

Künsberg Sarre: Wäre der Bildungsstadtrat in Wien von der ÖVP, wäre der ÖVP-Bildungsminister schon längst beim ÖVP-Finanzminister vorstellig geworden und hätte dort Geld herausgeholt. So schauen sich der Bund und alle anderen Bundesländer das erste Reihe fußfrei an und sagen: Uns geht das alles nichts an! So ist es aber nicht. Wien kann diese Situation nicht alleine stemmen. Das ist absurd. Jeder, der sich die Zahlen anschaut, versteht das. Das ist eine Staatsaufgabe. Die Bundesregierung kann hier nicht sagen: Das ist Aufgabe von Wien, und alles andere ist uns egal.

STANDARD: Was also tun?

Künsberg Sarre: Man muss einerseits die Länder in die Pflicht nehmen, dass sie auch ihre Asylquoten erfüllen müssen, und andererseits den Bildungsminister, der endlich tätig werden muss, denn natürlich ist er auch dafür zuständig. Es geht hier um Kinder, und viele von ihnen sind auch nicht freiwillig da. Das ist der entscheidende Punkt.

STANDARD: Wie soll das konkret gehen? Wiederkehr ist ja für eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge, also dass sie drei Jahre in dem Bundesland leben müssen, wo das Verfahren durchgeführt wird. Dann hätte man schon eine gewisse Verteilung.

Künsberg Sarre: Ja. Entweder die Bundesländer erfüllen ihre Quoten oder sie müssen Ausgleichszahlungen an Wien leisten. Aber zu sagen, Wien ist für die Umsetzung zuständig und soll auch alles finanzieren, da macht man es sich ein bisschen leicht. Das darf keine parteipolitische Frage sein, das müssen wir als Gesellschaft, als Land stemmen. Das ist eine Megaherausforderung, für die wir gemeinsam die bestmögliche Lösung finden müssen. Sonst wird es für alle zu einem Megaproblem.

Zwei Buben sitzen über Deutschförderunterlagen.
Ginge es nach den Neos, sollten die Schulen autonom am jeweiligen Standort entscheiden dürfen, ob Kinder, die nicht oder schlecht Deutsch sprechen, in eigenen Deutschförderklassen unterrichtet werden oder der Spracherwerb in den Regelklassen organisiert wird.
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STANDARD: Diese Flüchtlingskinder können natürlich kein Deutsch und werden bald in einer der durchaus umstrittenen "Deutschförderklassen" landen. Wie stehen Sie dazu?

Künsberg Sarre: Wir sind auch hier dafür, dass das die Schulen autonom entscheiden sollen. Es gibt viele Direktoren und Lehrkräfte, die sagen, bei ihnen funktioniert es in den Regelklassen mit extra Deutschförderung besser als in extra Deutschförderklassen. Generell muss man bei den Kindern, die schon da sind, viel früher, im Kindergarten, ansetzen mit der Sprachförderung, damit sie in den normalen Unterricht gehen können.

STANDARD: Was wäre anders, wenn die Neos die Bildungsministerin stellen würden, konkret in Ihrer Person?

Künsberg Sarre: Dann hätte Bildung endlich den Stellenwert in der Regierung, den sie bräuchte. Wir können doch nicht einfach tatenlos hinnehmen, dass so viele Schulabgänger nicht ordentlich lesen oder rechnen können. Die letzten Jahrzehnte waren größtenteils verlorene Jahre, weil kein Kanzler und kein Bildungsminister das Thema Bildung so vor den Vorhang geholt hat, wie es notwendig wäre. Unsere Leitlinien sind Chancengerechtigkeit, Autonomie statt Bürokratie und Vertrauen statt Kontrolle. Jetzt basiert das System auf Kontrolle. So will heute niemand mehr arbeiten. Lehrkräfte und Direktoren sollen vor Ort Entscheidungen treffen. Es ist absurd, dass im fernen Ministerium in Wien gesagt wird, was in einer Schule in Favoriten oder in einem Tiroler Seitental zu tun ist.

STANDARD: Sie nannten zuerst Chancengerechtigkeit. Wo docken Sie an?

Künsberg Sarre: Wir haben de facto ein Zweiklassensystem. Der Bildungsweg ist schon ganz früh vorgezeichnet. Der Kindergarten hat nicht den Stellenwert, den er als erste Bildungseinrichtung bräuchte. Der Hauptpunkt aber, warum die Bildungsminister so dahindümpeln, ist, dass es keine Ziele gibt. Was wollen wir eigentlich? Was ist das Ziel von Kindergarten und Schule? Sie sind vor allem für die Kinder da und nicht für Gewerkschafter, Personalvertreter oder Bildungsdirektionen.

STANDARD: Welche Freiheiten soll die Autonomie den Schulen bringen?

Künsberg Sarre: Das Ministerium hat die Aufgabe, einen guten Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen sich die Schule bewegen kann. Zum Beispiel, dass sie sagt, wir wollen einen Schwerpunkt Wirtschaftsbildung, eine andere will eine Mehrstufenklasse in der Mittelschule oder einen Tag in der Woche, an dem sie einen Homelearning-Day haben. In anderen Ländern können Direktoren gemeinsam mit dem Lehrkörper viel mehr entscheiden. Dort hat das Ministerium eine Art Servicefunktion, in Finnland etwa. Die sehen sich als Unterstützungseinrichtung für die Schulen. Bei uns ist auch die Bürokratie überbordend. Die Lehrer kritisieren zu Recht, dass sie permanent Listen ausfüllen, teilweise müssen sie dieselben Infos in verschiedene Systeme eintragen, oder Geld einsammeln, weil die Schulen oft kein Konto haben. Das sind lauter Dinge, die wahnsinnig viel Zeit kosten, in der sich die Lehrer eigentlich um die Kinder kümmern sollten. Oder wenn der Postler kommt, darf nur die Direktorin Pakete annehmen, weil nur sie unterschreiben darf. Die sollten sich aber darum kümmern, wie sie ihre Schule weiterentwickeln können.

STANDARD: Was bedeutet "chancen- und leistungsgerechte Schule" für Sie?

Künsberg Sarre: Wenn man die Sprachförderung im Kindergarten anschaut, hat sich das in den letzten Jahren verschlechtert. Es gibt mehr außerordentliche Schüler als früher. Da müsste man ansetzen, um die Chancen dieser Kinder zu verbessern. Dann kommt die frühe Trennung mit zehn Jahren, wo viele Schülerinnen und Schüler einfach in die falsche Schulform kommen. Das hängt auch stark davon ab, ob die Eltern zu Hause unterstützen können oder nicht. Die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kinder und machen das nicht absichtlich, dass sie nicht mit ihnen lernen, sondern aus verschiedenen Gründen können das manche nicht. Und das ist auch okay. Die Schule muss schauen, dass nicht alles auf die Eltern abgewälzt wird. In anderen Ländern schauen die Leute immer ungläubig, wenn man erzählt, wie viele Eltern bei uns regelmäßig abends mit den Kindern lernen. Das ist Aufgabe der Schule, passiert aber nicht. Und über Talente und Leistung wird ja überhaupt nicht mehr gesprochen in Österreich.

STANDARD: Dann tun wir es hier.

Künsberg Sarre: Es gibt ganz viele Kinder, die sich in der Schule fadisieren, weil sie einfach nicht abgeholt werden, die viel mehr könnten, deren Talente aber nicht entdeckt und gefördert werden, weil die Zeit dafür nicht da ist. Was die türkis-grüne Regierung gemacht hat, waren immer nur so Micky-Maus-Projekte. Wie die 15 Millionen Euro, die auf 100 Schulen mit schwierigen Bedingungen verteilt werden. Das ist ein Promille des Bildungsbudgets für Chancengerechtigkeit, das ist viel zu wenig, das kommt überhaupt nicht ins System. Vor kurzem wurde ein Talenteprogramm ausgerufen – für 75 Schüler! Das ist lächerlich. Wir brauchen den Zug zum Tor, dass man sagt: Okay, wir wollen in den nächsten Jahren die Anzahl der Kinder, die nicht sinnerfassend lesen können, reduzieren, mit den und den Schritten – und nicht immer ein kleines Projekt da und eines dort. Das ist zu wenig für die Herausforderungen, die wir haben.

STANDARD: Sie haben die Trennung mit zehn Jahren angesprochen. Auch die Pisa-Studie empfiehlt: "Das Alter anheben, in dem die Aufteilung auf verschiedene Bildungswege erfolgt." Bis zu welchem Alter sollten Kinder aus Neos-Sicht gemeinsam lernen?

Künsberg Sarre: Unsere Wunschvorstellung wäre 14. Uns unterscheidet aber von der gemeinsamen Schule von SPÖ und Grünen, dass die immer noch glauben, wenn man die gemeinsame Schule hat, ist alles gut. Man muss die gemeinsame Schule gut aufsetzen. Es muss Autonomie geben und eine andere Art der Finanzierung, nämlich einen Chancenindex, einen Sozialindex, der die sozioökonomische Zusammensetzung der Kinder berücksichtigt. Also dass Schulstandorte, die mehr Herausforderungen haben und daher mehr Unterstützung brauchen, die auch bekommen. Aber bitte keine Einheitsschule! Es sind nicht alle Schulen gleich. Darum müssen die Standorte auch autonom definieren können, wie sie die zusätzlichen Ressourcen einsetzen, weil sie das am besten wissen. Und es muss innere Differenzierung geben.

STANDARD: Das würde einen kompletten Systemumbau bedeuten. Mit der Konsequenz, dass das traditionelle Gymnasium nur noch aus der vierjährigen Oberstufe bestünde.

Künsberg Sarre: Wenn man es zu Ende denkt, ja.

STANDARD: Gleichzeitig fordern Neos immer die "freie Wahl der Schule". Was machen wir in einem Gesamtschulszenario mit den Privatschulen? Kritikerinnen und Kritiker der gemeinsamen Schule sagen, dann wird es einen Run derer, die es sich leisten können, auf Privatschulen geben.

Künsberg Sarre: Das passiert ja jetzt schon. In Wien ist mittlerweile jedes fünfte Kind in einer Privatschule. Das ist nicht von heute auf morgen gekommen, und es ist ja auch okay, wenn man sagt, das ist eine Schule, die passt für mein Kind. Unsere Vorstellung ist, dass die Privatschulen die gleiche Finanzierung bekommen wie die öffentlichen, dann aber auf das Schulgeld verzichten, dass man sie also in den Gesamttopf hereinholt. Das gilt auch für die freien Schulen. Diese Ungleichbehandlung im Vergleich zu den konfessionellen Schulen muss aufhören, denn viele gute Schulmodelle, die ins Regelschulsystem übernommen werden, kommen ja aus den freien Schulen. Unter freier Schulwahl meinen wir die Offenheit zu sagen: Es gibt verschiedene Schulen und pädagogische Konzepte oder Schwerpunkte, die man für sein Kind wählen können soll.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass dann die schon jetzt oft sehr elitären und sozial abgezirkelten Privatschulen auch öffentlich finanziert werden – und die segregierte Schülerschaft auch noch kostenfrei unter sich bleiben darf? Also sozial noch verzerrender?

Künsberg Sarre: Ich bin davon überzeugt, wenn man den Chancenindex einführt, also eine sozialindexbasierte Finanzierung nach Bedarf, dann wird es für jeden Schulstandort, auch die Privatschulen, interessanter sein, diverser zu werden und verschiedene Schülergruppen, auch aus bildungsfernen Schichten, anzunehmen, weil sie dann mehr Ressourcen bekommen. Das muss ja auch das Ziel sein, dass mehr gemeinsam gelernt wird.

STANDARD: Stichwort Kindergarten. Sie haben die Deutschförderung angesprochen. Ist das ein Ruf nach zwei verpflichtenden Kindergartenjahren?

Künsberg Sarre: Wir können uns dieses zweite verpflichtende Kindergartenjahr vorstellen. Bedingung dafür ist aber, dass der Kindergarten endlich als erste Bildungseinrichtung verstanden und qualitativ auch so ausgestattet wird. Jetzt haben wir zu große Gruppen und zu wenig Personal. Wenn man sieht, wie viele nach der Ausbildung nur kurz oder gar nicht in den Beruf einsteigen, muss man sich auch da die Frage stellen: Wieso ist es so? Weil die Arbeitsbedingungen für Pädagoginnen und Pädagogen sowie das Unterstützungspersonal so schwierig und herausfordernd sind. Wir brauchen einen einheitlichen Qualitätsrahmen, damit man sich darauf verlassen kann, dass der Kindergarten in Wien, Kärnten oder Vorarlberg qualitativ gleich ist.

STANDARD: Ein von der SPÖ kurz hochgezogenes Thema war die Abschaffung der Matura. Brauchen wir die jetzige Reifeprüfung noch?

Künsberg Sarre: Wir sind schon für die Matura, weil wir glauben, dass es wichtig ist, da quasi einen Abschluss zu haben. Man kann natürlich gewisse Elemente verändern, aber es nützt nichts, am Ende der Schullaufbahn bei der Matura etwas zu ändern, wenn wir im Kindergarten, in der Volksschule und in der Sekundarstufe nichts ändern. Wir sollten zum Beispiel da hinschauen, was Jugendliche am Ende der Schulpflicht mit 15 können müssen. Da sind so viele, die aus dem System herauskommen und nicht sinnerfassend lesen können oder die Grundrechenarten nicht beherrschen. Da müssen wir im Vorfeld so viel verändern, danach kann man über die Matura reden. (Lisa Nimmervoll, 8.4.2024)

Redaktioneller Hinweis: Die Interviews mit den Bildungssprecher:innen von ÖVP, Grünen, SPÖ und FPÖ kommen in loser Folge den nächsten Wochen.