Bei den Schulen hat es als Erstes eingeschlagen. 350 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter seien über den Familiennachzug zuletzt pro Monat nach Wien gekommen, erklärte Bildungsstadtrat und Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) dem STANDARD zuletzt. Dazu kommen rund 4.000 Schülerinnen und Schüler, die wegen des Angriffs Russlands seit Februar 2022 aus der Ukraine geflüchtet sind. Die Schulen sind am Anschlag, die große Anzahl an Neuankömmlingen bringt die Bundeshauptstadt in Bedrängnis und führt zu Raumnot im Bildungssystem. Bis Herbst sollen daher rund 45 Containerklassen errichtet werden, um der Platznot Herr zu werden.

Doch nicht nur in der Schule wird es eng – auch leistbarer Wohnraum fehlt für jene Familien, die aktuell nach Österreich kommen, weil ein naher Verwandter zuvor Asyl erhalten hat. Der pinke Bildungsstadtrat, der in Wien auch für Integration zuständig ist, sieht den Bund in der Pflicht: Wiederkehr fordert eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge, die keinen Job haben. Sie sollen drei Jahre in jenem Bundesland leben, in dem auch ihr Verfahren behandelt wurde.

Monatlich 350 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter sind laut Bildungsressort zuletzt über den Familiennachzug nach Wien gekommen. Das macht nun Containerklassen nötig – und befeuert die Debatte über die Verteilung von Geflüchteten.
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Die Wiener ÖVP regt das auf: "Wien steht vor großen Herausforderungen in den Bereichen Migration und Integration. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass die Stadt an ihre Grenzen stößt", sagt der nicht amtsführende Stadtrat Karl Mahrer. Wien könne "die Last nicht länger alleine tragen". Allerdings sieht die ÖVP Wien nicht den Bund, sondern die Stadt gefordert. Diese habe sich das Problem schließlich selbst zu verdanken. "Die überhöhten Sozialleistungen machen die Stadt innerhalb Österreichs zu einem Magneten für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte. Ohne eine Angleichung dieser Leistungen an andere Bundesländer wird jede Aufforderung zur Lastenteilung wirkungslos bleiben."

"Jedes Kind gleich viel wert"

Aber ist das tatsächlich so? Nein, sagt man im Büro des zuständigen Sozialstadtrats Peter Hacker (SPÖ). Man halte sich an die Gesetze, genaugenommen an das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, und das sieht Maximalbeträge vor, die nicht überschritten würden. Konkret sieht es so aus: Für Alleinlebende und Alleinerziehende beträgt die Höhe der Sozialhilfe im Jahr 2024 maximal rund 1.156 Euro pro Monat, für Paare wurde vom Bund ein Maximalbetrag von rund 1.618 Euro festgelegt – das ist von Wien bis Vorarlberg so.

Aber wo gibt es dann tatsächlich Unterschiede in der Sozialhilfe? Etwa bei den Kindersätzen. So staffelt etwa Wiens Nachbarland Niederösterreich die Zuschläge pro Kind. Für in der Haushaltsgemeinschaft lebende, unterhaltsberechtigte minderjährige Personen erhalten die Erziehungsberechtigten bei einem Kind 288,96 pro Monat, bei zwei Kindern pro Kind 231,17 Euro und so weiter. Bei fünf oder mehr Kindern erhält man pro Kind nur noch 138,70 Euro.

Anders ist das in Wien, wo für jedes Kind 312,08 Euro ausbezahlt werden. "Weil uns jedes Kind gleich viel wert ist", heißt es aus dem Büro von Hacker. Ein Anziehungsfaktor sei diese Herangehensweise nicht, wie das Beispiel Vorarlberg zeige. Dort seien die Kinder-Unterstützungsleistungen am höchsten, eine "Massenzuwanderung" in das westliche Bundesland finde aber nicht statt.

Doch genau um die Kinder geht es der Wiener ÖVP. Deren Integrationssprecherin im Gemeinderat, Caroline Hungerländer, ist der Ansicht, dass Wien die vielen Kinder, die durch den Familiennachzug nun in die Stadt kommen nicht mehr bewältigen könne. "Wien schafft das nicht mehr. Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr hat es selbst gesagt: Die Kapazitäten sind erschöpft", kritisiert die ÖVP-Politikerin. Sie fordert "eine wirkliche Reduzierung der Binnenmigration" und eine "offene Diskussion" zur Umsetzung eines Aktionsplans – statt Wohnsitzauflage oder Ausgleichszahlungen der Bundesländer.

Wien fordert Ausgleichszahlungen

Ausgleichszahlungen sind nämlich das, was Wien von den anderen Ländern will. Denn: Die Bundeshauptstadt erfülle die Quote bei der Flüchtlingsaufnahme zu mehr als 190 Prozent, heißt es aus dem Büro Hackers. Weshalb man das tue? "Weil die andern Länder ihre Quoten nicht erfüllen", sagt ein Sprecher des Stadtrats. Das stimmt auch, denn neben Wien hält sich einzig das Burgenland an die Vorgaben.

Wer bereits das Asylverfahren in Wien abwarte und sich in dieser Zeit ein Leben in der Hauptstadt aufbaue, der werde nach Erhalt eines positiven Bescheids wohl auch eher dort bleiben, als aufs Land zu ziehen und dort quasi von vorne zu beginnen, heißt es aus dem Sozialressort. Das sei einer der Gründe, warum so viele Menschen, die in Österreich Asyl erhalten haben, samt etwaiger Familien in Wien seien – und nicht die Höhe der Sozialleistungen.

Pull-Faktor Community

Weitere Erklärung: Die wirtschaftliche und soziale Struktur der Großstadt. "In der Stadt gibt es mehr Ausbildungsmöglichkeiten, mehr Jobs und die entsprechenden Communitys", sagt der Hacker-Sprecher. Das sei "überall auf der ganzen Welt" so. Was letzteren Punkt – die Communitys – angeht, widerspricht die ÖVP dem Sozialressort nicht einmal. Die Bewertung ist aber eine andere: In Wien lebende "Parallelgesellschaften" seien ein Pull-Faktor, der zu Segregationsentwicklungen führe, heißt es in einem türkisen Gemeinderatsantrag aus dem Vorjahr. Die ethnische, soziale und kulturelle Durchmischung sei in einigen Stadtvierteln fehlgeschlagen.

Außerdem vermisst die Volkspartei in Sachen Integration die "Kostenwahrheit" über alle Ressorts hinweg – und verlangte bereits 2021 eine entsprechende Aufstellung. Im Sozialressort denkt man allerdings nicht daran, zurückzuschrauben. "Oberstes Ziel unserer Sozialpolitik ist, Kinder- und Wohnungsarmut zu verhindern. Dazu werden wir in Wien immer stehen", heißt es aus dem Büro von Hacker. "In einer solch kritischen Zeit Sozialleistungen zu kürzen führt nur zu Beschaffungskriminalität und zu mehr Armut. Dafür stehen wir sicher nicht zur Verfügung." (Oona Kroisleitner, Stefanie Rachbauer, 8.4.2024)