Boot mit Migranten im Mittelmeer.
Mit den neuen Maßnahmen sollen die Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa wie etwa über das Mittelmeer besser bewältigt werden.

Fast ein Jahrzehnt lang war auf europäischer Ebene über eine grundlegende Reform der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik gestritten worden – bis zum Mittwoch. Die EU-Kommission und die Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten hatten sich im Herbst vergangenen Jahres nach mehreren Anläufen vorläufig auf ein "Migrationspaket" geeinigt. In zähen Verhandlungen mit den diversen Ausschüssen und den sieben Fraktionen des Europäischen Parlaments wurden in den vergangenen Wochen und Monaten noch die letzten Kompromisse ausgehandelt. Aber dennoch war die geplante finale Abstimmung im Plenum der 705 EU-Abgeordneten in Brüssel am frühen Mittwochabend eine Zitterpartie.

Das Ergebnis der insgesamt zehn zu dem Paket zählenden Abstimmungen war teilweise knapp – so zum Beispiel beim Teilaspekt "Solidaritätsmechanismus": Dabei sollen Länder, die keine Asylwerber nehmen, ersatzweise dafür in die EU-Kassa einzahlen. Von 619 abgegebenen Stimmen waren 322 dafür, 266 dagegen, bei 31 Enthaltungen. Das Plenum des EU-Parlaments segnete die Reform des EU-Asylsystems letztlich kurz vor 18 Uhr ab. Nun müssen noch die EU-Regierungen final zustimmen.

Von den österreichischen EU-Abgeordneten stimmten ÖVP, SPÖ und Neos laut eigenen Angaben für das gesamte Paket. Die FPÖ-Abgeordneten waren – bis auf eine Regelung – dagegen, die Grünen unterstützen den Asyl- und Migrationspakt nicht.

Die Interessengegensätze ziehen sich nicht nur in Österreich, sondern in allen EU-Ländern und natürlich auch im EU-Parlamentsplenum quer durch die Parteifamilien und Lobbys. EU-Länder im Süden, wo die Migranten ankommen, haben ganz andere Ideen von "gemeinsamer Politik zu Asyl und Zuwanderung" als die meist reicheren Staaten in Westeuropa und im Norden. Frankreich ist zurückhaltender als Deutschland. Die Osteuropäer sind durch die Bank eher "flüchtlingsfeindlich", siehe Ungarn.

Die Rechten gegen EU-Regelungen

Dazu kommt, dass die rechten und extrem rechten Parteien die EU und ihre Integrationspolitik skeptisch bis total ablehnend sehen. Sie stimmen in Straßburg fast immer mit Nein bei gemeinschaftlichen Regelungen.

Speziell beim Migrationspaket, das einen restriktiveren Umgang mit Asylwerbern vorsieht und EU-Außengrenzen strenger sichern soll, war bis zuletzt auch die Linksfraktion ablehnend, die Grünen waren skeptisch, ebenso Teile der Liberalen, Christ- und Sozialdemokraten. Die Ausgangslage hatte daher vor der Abstimmung für Nervosität gesorgt.

Drei Beispiele: Die scheidende grüne Abgeordnete Monika Vana erklärte, der Pakt sei "ein Rückschritt für die Rechte der Flüchtlinge". Die niederländische Liberale Sophie in 't Veldt war zumindest bei einzelnen Teilen des Migrationspakets skeptisch und wollte sich enthalten.

FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky, dessen Partei vor den Europawahlen Anfang Juni gerade einen massiven Anti-EU-Wahlkampf führt und der – wörtlich – sogar einen "Remigrationskommissar" forderte, lehnt das Paket rundweg "als hilflosen Versuch, der an Massenzuwanderung nichts ändern wird", ab.

Widerstand gegen Schnellverfahren

So zogen sich bis zum Moment der Abstimmung viele Trennlinien durch die Reihen der Abgeordneten. Insbesondere der Plan, Schnellverfahren für Asylwerber einzuführen und diese dabei in zu schaffenden Auffanglagern an den EU-Außengrenzen festzuhalten, bevor eine Erstbewertung vorgenommen ist, ließ viele Abgeordnete von Grünen und Liberalen schwanken.

Ähnlich war das bei einem neuen Notfallmechanismus: Staaten sollen ihre Aufnahme verweigern können, wenn die Zahl der Asylwerber zu groß wird. Auch eine andere Lastenverteilung zwischen Ländern in Form von Kompensationszahlungen, wenn man keine Asylwerber aufnimmt, sorgte für Unruhe. So wurde um jede Stimme gekämpft.

Die Differenzen spiegeln viele offene Probleme, die in einem Jahrzehnt wachsenden Migrationsdrucks auf Europa entstanden waren und ungelöst blieben. 2013 war der Krieg in Syrien endgültig eskaliert. Allein 2015 strömten mehr als eine Million Flüchtlinge – in der Mehrheit aus Syrien – über Griechenland und die Balkanroute nach Europa.

Problem Sekundärmigration

Seit damals stellten mehr als sieben Millionen insgesamt in der EU einen Asylantrag, die meisten aus Asien oder Afrika kommend. Nur eine Minderheit erhielt Flüchtlings- und Asylstatus, viele nur eine Duldung, weil Rückführungen in unsichere Drittstaaten rechtlich nicht möglich sind. Besonders umstritten ist der Umgang mit Menschen, die trotz eines Abschiebungsbescheids Europa nicht verlassen und als "Sekundärmigranten" in andere EU-Staaten weiterziehen.

Die Lasten zwischen den Staaten waren daher seit Jahren sehr ungleich verteilt. Mit dem Krieg in der Ukraine kamen fast fünf Millionen Kriegsflüchtlinge zusätzlich, denen aufgrund des Assoziierungsvertrags ohne Verfahren Aufenthalt und Hilfe gewährt wurden. Das alles war mit ein Grund, warum die Kommission 2020 erstmals ein restriktives Migrationspaket vorgeschlagen hat. (Thomas Mayer, 10.4.2024)