Ein Demonstrant mit einem Bild von Walid Daqqah.
Proteste nach dem Tod des wegen seiner Rolle in einem Morddelikt verurteilten Palästinensers Walid Daqqah.
EPA/ALAA BADARNEH

Wenn es nach Postings in den sozialen Medien geht, dürfte Amnesty International diese Woche einige Spender in Deutschland und Österreich eingebüßt haben. "Die Beziehung" mit der Menschenrechtsorganisation sei am Ende, schrieb etwa ein deutscher SPD-Bundestagsabgeordneter. "Das war's wohl" mit den Spenden, schrieb der stellvertretende Chefredakteur der "Kleinen Zeitung".

Warum all die Empörung? Warum wirft die deutsche "Bild"-Zeitung der NGO vor, einem "Top-Terroristen zu huldigen"? Zurück geht das Ganze auf eine Aussendung von Amnesty International vom Montag zum Tod eines Palästinensers in israelischer Haft beziehungsweise auf ein begleitendes X-Posting, in dem Israel eine "Missachtung palästinensischen Lebens" vorgeworfen wird. Erwähnt wurde auf X nämlich nur, dass es sich bei dem 62-jährigen Walid Daqqah um den am längsten in Israel einsitzenden Häftling handelte – jedoch nicht, dass dieser wegen maßgeblicher Beteiligung an einem Tötungsdelikt hinter Gittern saß.

Polarisierende Debatte

Das israelische Außenministerium reagierte daraufhin empört: "Amnesty, ihr habt eine beunruhigende Obsession, sadistische Mörder zu verherrlichen", hieß es auf X. Der Streit ist exemplarisch dafür, wie sehr der Nahostkonflikt polarisiert und wie verkürzt die Debatte oft ist. Schließlich wirft eine Seite der anderen Antisemitismus vor und den Umstand, verurteilte Verbrecher zu verteidigen. Dabei werden jedoch durchaus fragliche Haftbedingungen in Israel ignoriert, die von Menschenrechts-NGOs schon lange kritisiert werden.

Andererseits lässt eine global anerkannte NGO maßgebliche Fakten auf ihrem reichweitenstarken Social-Media-Account aus und füttert damit möglicherweise ein Bild Daqqahs als unbescholtener Freiheitskämpfer, der während seiner Haft Bücher verfasste und Abschlüsse nachholte.

Ein Versuch, die Fakten einzuordnen: Daqqah, der am Sonntag 62-jährig verstarb, wurde im Jahr 1986 festgenommen und von einem israelischen Militärgericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Dem damals 24-Jährigen wurde vorgeworfen, jene militante Gruppe befehligt zu haben, die den 19-jährigen israelischen Soldaten Moshe Tamam entführt, gefoltert, verstümmelt und ermordet hatte. Daqqah hat seine Beteiligung stets bestritten. Diese Informationen befinden sich großteils auch in der deutlich ausführlicheren Aussendung von Amnesty International.

Krebsdiagnose

Im Jahr 2012 wurde die lebenslange Haftstrafe auf 37 Jahre verkürzt, wie in Israel üblich. Damit wäre er eigentlich im Vorjahr entlassen worden. Jedoch wurde er zwischenzeitlich wegen des Versuchs, Mobiltelefone ins Gefängnis zu schmuggeln, zu zwei weiteren Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung war also erst für März 2025 vorgesehen.

Seit dem Vorjahr setzte sich Amnesty International intensiv und öffentlich für eine vorzeitige Freilassung des Todkranken ein. Denn bei Daqqa war 2022 ein schwerer Knochenmarkskrebs diagnostiziert worden. Palästinensische Menschenrechtsorganisationen und seine Familie kritisieren außerdem, dass Daqqa gefoltert, geschlagen und erniedrigt worden sei und ihm zustehende Besuche und die nötige medizinische Versorgung verwehrt worden seien.

Seine vierjährige Tochter, die er wegen untersagter ehelicher Besuche mittels aus dem Gefängnis geschmuggelten Spermas während seiner Haft zeugte, durfte er laut Amnesty International nur ein einziges Mal sehen. Die NGO fordert die Freigabe seines Leichnams für das Familienbegräbnis.

Israel, das regelmäßig von Haftbedingungen im Einklang mit den Gesetzen spricht, widerspricht den Angaben: Daqqa soll im Gefängnis eine Krebsbehandlung bekommen haben. Die Umstände seines Todes würden jedoch, wie in so einem Fall üblich, untersucht. Indes bedauerte Itamar Ben-Gvir, der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, jedoch, dass Daqqah einst nicht die Todesstrafe bekommen habe.

Umstrittene Haftbedingungen

Ein Umstand, den Menschenrechtsverteidiger schon lange in Israel und den besetzten Palästinensergebieten anprangern, ist, dass bei israelischen und den zahlreichen palästinensischen Beschuldigten oft mit zweierlei Maß gemessen wird. Im Westjordanland gilt etwa für israelische Siedler das Zivilrecht, für Palästinenser aber das deutlich harschere Militärrecht. Vor einem Militärgericht ist man etwa schon mit zwölf Jahren strafmündig. Gefängnisstrafen sind die Regel, Besuche nur selten erlaubt.

Im Fall Daqqa, eines palästinensischen Bürgers Israels, kamen laut Amnesty International in den Achtzigerjahren noch die britischen Notstandsgesetze vor dem Militärgericht zum Einsatz: Diese erforderten demnach eine niedrigere Beweisschwelle als israelisches Recht. (Flora Mory, 10.4.2024)