Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt.
Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, gehört mit Kollegen wie Meron Mendel zu jenen Vertretern jüdischen Geisteslebens in Deutschland, die für ein Offenhalten aller Verständigungskanäle plädieren.
Sandra Hauer

Als Spezialistin für das Erbe der Kritischen Theorie – Horkheimer, Adorno und die Folgen – ist Mirjam Wenzel gewissermaßen prädestiniert für die Leitung des Jüdischen Museums in Frankfurt. Während einer Lesung in Berlin wurde sie zur Zielscheibe von Hassreden. Hat der Antisemitismus den Kulturbetrieb erreicht? Trotz aller Verwerfungen des Debattenklimas in Deutschland ist Wenzel überzeugt: Konflikte gehören diskursiv ausgetragen, Museen sind geeignete Debattenschauplätze.

STANDARD: Sie wurden als Mitwirkende einer Kunstaktion im Hamburger Bahnhof Opfer von Hate-Speech und Übergriffen. Beteiligte an dieser "Civic Action" nannten Sie eine "Zionistin" und "Rassistin". Kapert man damit Begriffe der Kritik und verwendet sie entgegen ihrer Bedeutung?

Wenzel: Um Begriffe kapern zu können, bedarf es eines Verständnisses davon, was sie bedeuten. Dieses scheint mir kaum noch gegeben. Nehmen wir den einen Begriff, der mir zum Vorwurf gemacht wurde. Zionisten waren in erster Linie Anhänger jener Bewegung von zumeist assimilierten Jüdinnen und Juden, die in Reaktion auf den europäischen Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert entstand und sich für die Gründung eines jüdischen Gemeinwesens einsetzte. Schon bald legte sie sich darauf fest, dass dieses Gemeinwesen auf dem Gebiet des Gelobten Landes aus der Thora errichtet werden müsse. Mit dieser Festlegung begann die Idee einer jüdischen Nation. Mit der Gründung von Israel als Nationalstaat mit jüdischer Mehrheit hatte die Bewegung 1948 ihren Sinn und Zweck erfüllt.

STANDARD: Was ist von Wortgebilden wie "siedlerkolonialer Apartheidstaat" zu halten?

Wenzel: Nach Ende des Sechstagekriegs 1967 propagierten religiöse Jüdinnen und Juden die Idee, dass die gerade eroberten Gebiete das biblische Land Judäa und Samaria seien, das besiedelt werden müsse. Die postkoloniale Kritik am Zionismus nimmt ihren Ausgang von der Besiedlung, die nationalreligiöse Siedler seit mehr als 55 Jahren im besetzten Westjordanland vornehmen. Sie zielt allerdings nicht nur auf die völkerrechtswidrigen Siedlungen und die Asymmetrie der Herrschaftsverhältnisse im Westjordanland. Sie tut so, als ob die Aktivitäten der Siedler eine Fortsetzung der zionistischen Vorbereitungen zum Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens seien, die zur Staatsgründung 1948 führten. Damit zielt die postkoloniale Kritik – nicht zuletzt auch mittels des Rassismusvorwurfs – auf eine Delegitimierung des Staates Israel im Allgemeinen.

STANDARD: Woher rührt die verstörende Empathielosigkeit vieler, als das Ausmaß des Massakers vom 7. Oktober 2023 ruchbar geworden war?

Wenzel: Die Black-Lives-Matter-Bewegung, das BDS-Netzwerk sowie der postkoloniale Diskurs auf der einen, die rigide Abtrennung des Westjordanlands wie des Gazastreifens von Israel wie auch die derzeitige rechtsextreme Regierung in Jerusalem auf der anderen Seite haben zur internationalen Isolierung Israels geführt. Sie alle bewirkten eine Delegitimierung und Dämonisierung des israelischen Staats. Mein Eindruck ist, dass viele Kulturschaffende israelische Staatsbürger mittlerweile nicht mehr als Menschen, sondern als Siedler wahrnehmen. Nur so kann ich mir erklären, warum die Massaker des 7. Oktober, das Leid der Überlebenden wie auch der Angehörigen nicht einen breiten Aufschrei nach sich gezogen haben. Mit Kolonialherren hat man kein Mitgefühl, mit deren Opfern hingegen schon. Meiner Wahrnehmung zufolge war im Kultur- wie im Wissenschaftsbereich die Bereitschaft für Empathie gegenüber den Palästinensern schon von Beginn des Kriegs an größer.

STANDARD: Sie haben sich sehr dezidiert für die Inanspruchnahme "demokratiebildender Orte" ausgesprochen. Wie müssten diese aussehen?

Wenzel: In den letzten acht Jahren tobte innerhalb des Internationalen Museumsrats (ICOM) eine Debatte darum, was ein Museum sei. Ich konnte der neuen Museumsdefinition in ihrer Betonung der gesellschaftspolitischen Aufgaben von Museen viel abgewinnen. Sie wurde 2019 leider abgelehnt. Einer ihrer entscheidenden Sätze war: Museen sind demokratiebildende Orte! Die liberale demokratische Ordnung läuft derzeit Gefahr, aus sich selbst heraus ausgehöhlt zu werden. Eben deshalb finde ich es wichtig, dass Museen ihre Verantwortung als Orte kultureller Selbstvergewisserung wahrnehmen.

STANDARD: An der Frage, ob man eine Antisemitismus-Klausel in der bundesdeutschen Kulturförderung verankern soll, scheiden sich die Geister. Eine diesbezügliche Initiative von Bundesministerin Claudia Roth wurde von verfassungsrechtlichen Bedenken gestoppt. Was wäre Ihre Haltung zu einer Selbstverpflichtung der Fördergeber?

Wenzel: Es kommt mir etwas kurios vor, die Zuwendung staatlicher Fördermittel an die Unterschrift unter eine Gesinnungsbekundung zu binden. Jede Förderentscheidung basiert auf der Qualitätseinschätzung einer Jury, die in der Regel das Vertrauen der Förderer genießt. Wenn staatliche Förderer darauf Wert legen, dass die von ihnen geförderte Kunst weder antisemitische noch rassistische, sexistische oder homophobe Vorstellungen transportiert, sollten sie bei der Besetzung der Jury darauf achten, dass die Beteiligten ein entsprechendes Gespür haben. Antisemitismus ist ein Phänomen, das mit der Projektion verdrängter Ängste auf die Juden zu tun hat. Mit autoritären Maßnahmen antisemitische Einstellungen bekämpfen zu wollen kommt mir wie der Versuch vor, Feuer mit Öl zu löschen. Der aktuellen Situation im Kulturbereich wäre mit edukativen, nicht mit restriktiven Maßnahmen zu begegnen.

STANDARD: Bedient sich der postkoloniale Diskurs, etwa mit Blick auf das Einnehmen propalästinensischer Positionen, aus der Mottenkiste der alten, marxistischen Herrschaftskritik?

Wenzel: Mich stört an der undifferenzierten Verwendung von Begriffen wie "Zionismus", "Rassismus" und "Siedlerkolonialismus", dass sie rein moralisch verwendet werden. Gut ist, wer sich auf die Seite der Unterdrückten stellt oder selbst Opfer von Kolonialismus und Gewalt, sozial und politisch benachteiligt sowie POC ist. Schlecht ist, wer den kolonialen Machtapparat repräsentiert, andere unterdrückt und weiß ist. Diese moralische Überzeugung geht mit einer zunehmenden Bedeutung von Identitätspolitik einher, die um die Erfahrung des Individuums kreist. Sie geht Hand in Hand mit einer Imperialismuskritik, in deren Schatten die antisemitische Zuschreibung voranschreitet: Jüdisch ist gleich weiß ist gleich hegemonial ist gleich kolonial. So einfach scheint für manche Aktivisten unsere komplexe Gegenwart zu fassen zu sein. (Ronald Pohl, 12.4.2024)