Warum existieren wir, was geschah beim Urknall, und wie werden die Bausteine der Materie zusammengehalten? Es sind die größtmöglichen Fragen, denen das europäische Kernforschungszentrum Cern bei Genf seit inzwischen 70 Jahren nachspürt. Zahlreiche Rätsel konnten inzwischen gelöst werden, so haben wir heute einen sehr guten Überblick über die elementaren Bausteine der Materie und die dazugehörigen Kräfte, wie sie im Standardmodell der Teilchenphysik abgebildet werden. Es bleiben aber immer noch viele Fragen offen.

Cern LHC Teilchenphysik
Am europäischen Kernforschungszentrum Cern wird daran gearbeitet, experimentell Bedingungen wie kurz nach dem Urknall nachzustellen.
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Die Erfolgsgeschichte der Teilchenphysik in den vergangenen Jahrzehnten hatte auch damit zu tun, dass immer größere und leistungsstärkere Teilchenbeschleuniger gebaut wurden, die neue Entdeckungen ermöglichten. So darf es wenig überraschen, dass aktuell Überlegungen im Gange sind, wie die größte Maschine der Welt abermals vergrößert werden könnte. Future Circular Collider (FCC) lautet der Name dieses künftigen Riesenbeschleunigers. Da nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens 2012 die großen Durchbrüche am Cern ausgeblieben sind, gibt es auch kritische Stimmen, die dem Bau immer größerer Anlagen skeptisch gegenüberstehen. (Der Theoretiker Peter Higgs ist vergangene Woche mit 94 Jahren gestorben.)

Die Machbarkeitsstudie für den FCC wird von Michael Benedikt geleitet. Er ist einer der zahlreichen Österreicher, die am Cern tätig sind. Auch mehrere österreichische Institutionen kooperieren mit dem Cern, wie das Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften, die Universitäten Wien, Innsbruck und Linz, die Montanuniversität Leoben, die TU Wien oder die Forschungsförderungsgesellschaft FFG. Die jährlichen Mitgliedsbeiträge von etwa 27 Millionen Euro entrichtet das Wissenschaftsministerium.

STANDARD: Der große Beschleunigerring LHC hat neue Rekorde aufgestellt und die Entdeckung des Higgs-Teilchens ermöglicht. Sie leiten die Planung für einen noch größeren Beschleuniger. Worum geht es dabei?

Benedikt: Der Future Circular Collider (FCC) wird mit einem Umfang von etwa 91 Kilometern fast viermal so groß sein wie der LHC. Der Beschleuniger soll in einem großen kreisförmigen Tunnel ungefähr 200 Meter unter der Oberfläche im Genfer Becken errichtet werden.

STANDARD: Was gilt es bei so einer Megakonstruktion zu beachten?

Benedikt: Man muss dabei verschiedene Aspekte abwägen. Einerseits die Akzeptanz in der Region, den Umweltschutz und wie sich die Anlage am besten an das Infrastrukturnetz und die Stromversorgung anbinden lässt. Weiters ist die geologische Situation in Betracht zu ziehen, um das Risiko beim Bau des 91 Kilometer langen Tunnels zu minimieren. Schließlich gibt es gewisse Rahmenbedingungen der Anlage wie Größe und Leistungsfähigkeit. Unter diesen drei Aspekten muss man das Optimum finden.

Michael Benedikt Cern
Michael Benedikt leitet die Machbarkeitsstudie für den Future Circular Collider.
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STANDARD: Wenn das Projekt tatsächlich so realisiert wird, welche wissenschaftlichen Fragen lassen sich mit so einem riesigen Beschleuniger in den Blick nehmen?

Benedikt: Der Future Circular Collider kommt in zwei Etappen. In der ersten Phase geht es um einen Beschleuniger, in dem Elektronen mit ihren Antiteilchen, sogenannten Positronen, zur Kollision gebracht werden. Mit diesem Beschleuniger kann man Teilchen, die wir schon kennen, in großen Mengen und in einem sehr sauberen experimentellen Umfeld erzeugen. Dadurch können wir Messungen mit extrem hoher Präzision durchführen. Und das ist ein sehr wichtiger Aspekt, denn wir wissen heute, dass das Standardmodell der Teilchenphysik nicht alle Phänomene, die wir sehen, erklären kann. Das heißt, wir suchen nach neuer Physik außerhalb des bekannten Bereichs. Um dorthin vorzudringen, könnten kleinste Störungen der Theorie aufschlussreich sein. Diese Stufe eins wird uns also den Zugang zu völlig neuer Physik über Höchstpräzisionsmessungen an den existierenden Teilchen ermöglichen.

STANDARD: Wie geht es dann weiter in der zweiten Phase?

Benedikt: Ungefähr ab 2070 könnte dann der nächste Protonen-Collider in Betrieb gehen. Das wäre eine ähnliche Maschine wie der LHC, nur um einen Faktor zehn stärker in der Kollisionsenergie und mit zehn- bis fünfzigmal höheren Kollisionsraten. Dieser Beschleuniger ermöglicht die Produktion von Teilchen, die wir heute noch gar nicht kennen, und erlaubt uns, neue experimentelle Bereiche abzudecken, die wir bislang nicht erreichen können.

STANDARD: Es gibt einige Hinweise auf Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik. Welche Forschungsbereiche erscheinen Ihnen besonders aussichtsreich?

Benedikt: Ein großer Bereich, der sehr wichtig ist, ist die Dunkle Materie. Wenn wir die Bewegungen von Galaxien beobachten, dann können wir den Effekt der Dunklen Materie sehen. Wir finden dabei beträchtliche Abweichungen von dem, was wir erwarten würden. Und diese Abweichungen lassen sich erklären, wenn man zusätzliche Masse im Universum annimmt. Aber diese Masse sehen wir nicht. Deswegen nennen wir sie Dunkle Materie. Wir verstehen weder ihre Zusammensetzung noch ihre Wechselwirkung mit den existierenden Teilchen. Es gibt verschiedene Theorien dazu, und der FCC wird es ermöglichen, einige der aussichtsreichsten Bereiche, in denen man Dunkle-Materie-Teilchen erwarten würde, abzusuchen.

LHC Cern Large Hadron Collider
In einem 27 Kilometer langen Tunnel ist der heutige Beschleunigerring LHC untergebracht. Wenn die Anlage gewartet wird und keine Kollisionen stattfinden, stehen mehrere Einstiegspunkte für Cern-Mitarbeiter und Besucher zur Verfügung. Für weitere Distanzen im Tunnel stehen Fahrräder bereit.
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STANDARD: Welchen weiteren ungelösten Rätseln könnte der FCC nachspüren?

Benedikt: Die zweite große Frage in der Teilchenphysik hat mit dem Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie zu tun. Wenn wir von der Urknalltheorie ausgehen, dann müsste eigentlich gleich viel Materie wie Antimaterie entstanden sein. In weiterer Folge hätte sich die Materie mit der Antimaterie wieder vereint, und sie hätten sich gegenseitig ausgelöscht. Wir hätten also nichts als Vakuum. Das ist aber nicht so, wir sind ja vorhanden, und wir nehmen an, dass es im sehr frühen Universum knapp nach dem Urknall Unterschiede gegeben haben muss im Verhalten zwischen Materie und Antimaterie, die dazu geführt haben, dass ein kleiner Teil von Materie überlebt hat, woraus später Sterne und Galaxien entstanden sind und letzten Endes auch wir. Und diese Effekte versuchen wir durch die Untersuchung von Zerfällen von Materie und Antimaterie genauer zu verstehen.

STANDARD: Der größte Erfolg des LHC war die Entdeckung des Higgs-Teilchens 2012. Es gibt aber immer noch offene Fragen dazu – was könnte der FCC beitragen?

Benedikt: Das Higgs-Teilchen ist ein ganz spezielles Teilchen. Seine Eigenschaften sind anders als die aller anderen bekannten Teilchen. Mit dem FCC wollen wir das Higgs-Teilchen, seine Parameter und deren Konsistenz mit dem Standardmodell ganz genau untersuchen. Wir hoffen, dass man daraus auch viel über die Entwicklung im ganz frühen Universum lernen kann.

STANDARD: Das Kernforschungszentrum Cern feiert heuer sein 70-jähriges Bestehen. Neben den beeindruckenden Ergebnissen in der Grundlagenforschung ist auch die Liste der Anwendungen, die sich aus dieser Forschung ergeben haben, beachtlich. Ein "Abfallprodukt" war beispielsweise das WWW, das am Cern erfunden worden ist und heute nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken ist. Wie ist es dazu gekommen?

Benedikt: Im Laufe der Entwicklung der Hochenergiephysik haben wir immer größere Anlagen gebaut. Hunderte Institute nehmen an diesen Experimenten teil, mit tausenden Beteiligten. Mit dieser Internationalisierung und Vergrößerung der Forschergemeinschaft wurde natürlich auch der Bedarf immer größer, die Daten auf effiziente Art teilen zu können. So hat man sich überlegt, wie man die Daten an einem Ort speichern und sie Beteiligten weltweit zugänglich machen kann. 1989 hat Tim Berners-Lee zu diesem Zweck das World Wide Web entwickelt.

STANDARD: Die Hochenergiephysik hat aber auch zu medizinischen Anwendungen geführt. Sie selbst haben den medizinischen Teilchenbeschleuniger Med-Austron in Wiener Neustadt konzipiert. Welche Therapien sind mit dieser Art der Physik möglich?

Benedikt: Teilchenbeschleuniger werden schon seit langer Zeit für Tumortherapien verwendet. Die Idee dahinter ist, dass man die Tumorzellen mit hochenergetischen ionisierenden Teilchen bestrahlt und so versucht, das Krebsgebiet abzutöten. Alle großen Spitäler haben inzwischen Strahlentherapieeinrichtungen. Die Besonderheit an der Anlage in Wiener Neustadt ist, dass andere, schwerere Teilchen verwendet werden, wie Protonen und Kohlenstoffionen, und man damit wesentlich präziser arbeiten kann. Man kann damit zum Beispiel Tumoren bestrahlen, die sich sehr nahe an kritischen Organen befinden.

STANDARD: Bei der Magnetresonanztomografie kommt ebenfalls eine Entwicklung des Cern zum Einsatz. Was war die Grundidee dabei?

Benedikt: Für den Bau des LHC haben wir über 20 Jahre hinweg ein Magnetentwicklungsprogramm durchgeführt, um entsprechend leistungsfähige, supraleitende Magnete zu konstruieren, um den Teilchenstrahl im 27-Kilometer-Ring auf der Bahn zu halten. Diese Magnettechnologie basiert auf einer Metalllegierung, und diese wurde von der Industrie übernommen und in der Diagnostik für die Magnetresonanztomografie eingesetzt.

Entwicklungen der Hochenergiephysik haben auch zu breiten Anwendungen mit großem gesellschaftlichem Nutzen geführt, etwa das am Cern entwickelte World Wide Web oder medizinische Innovationen wie Strahlentherapie zur Tumorbehandlung oder die Magnetresonanztomografie.
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STANDARD: Auch für den FCC ist die Entwicklung neuer Technologien notwendig. Welche Ziele verfolgen Sie, etwa was die Energieeffizienz angeht?

Benedikt: Die Energieeffizienz, die wir erreichen wollen, verlangt Weiterentwicklungen bei supraleitenden Materialien, also Technologien, die dazu führen, dass elektrischer Strom quasi ohne Widerstand fließen kann. Besonderes Interesse gibt es bei Hochtemperatursupraleitung. Hochtemperatur heißt in diesem Fall noch nicht Raumtemperatur, sondern einfach nicht ganz so nahe am absoluten Nullpunkt. Wenn das gelingt, sind auch sehr breit gefächerte Anwendungen in der Industrie zu erwarten.

STANDARD: Noch ist es nicht fix, dass der Future Circular Collider tatsächlich gebaut werden wird. Was sind die nächsten Schritte?

Benedikt: Aktuell arbeiten wir an der Machbarkeitsstudie für den FCC. Diese wird in einem Jahr fertiggestellt und soll alle Antworten darauf geben, ob die Anlage in der Region gebaut werden kann, und eine auch Kostenabschätzung liefern. Es wird dann eine offen geführte Diskussion geben, und letztlich wird der Cern-Aufsichtsrat die Europäische Strategie für Teilchenphysik vorlegen. Wenn es zu einer positiven Stellungnahme für den FCC kommt, könnte die Projektentscheidung zur Errichtung im Jahr 2027 fallen.

STANDARD: Als der LHC 2008 in Betrieb gegangen ist, gab es Befürchtungen, dass dort gefährliche Schwarze Löcher produziert werden könnten. Eine berechtigte Sorge oder Panikmache?

Benedikt: Man muss Sorgen natürlich sehr ernst nehmen, aber wir haben zu Beginn des LHC ausführliche Studien dazu gemacht. Wir haben gezeigt, dass es in der kosmischen Strahlung wesentlich energetischere Teilchen gibt, als wir sie mit unseren Teilchenbeschleunigern erzeugen. Eine Gefahr für die Erde durch das Cern kann man also ausschließen.

(Tanja Traxler, David Rennert, 17.4.2024)

Dieser Text ist im aktuellen STANDARD-Wissenschaftsmagazin FORSCHUNG erschienen. Das Magazin ist im STANDARD-Onlineshop um € 5,90 erhältlich.