Im Jahr 2024 ist rund die Hälfte der Weltbevölkerung zu Wahlen aufgerufen. Doch immer wieder zeigt sich auch in Österreich, wie tief gerade russische Desinformation und Propaganda in die Gesellschaft hineinwirken. Wie wirkt sich Desinformation auf uns als Menschen und auf unsere Gesellschaften aus? Darüber hat Jon Roozenbeek am Rande des Journalismus-Festivals in Perugia im Interview gesprochen. Er ist Assistenzprofessor für Psychologie und Sicherheit am Londoner King's College.

Sicherheitsforscher Jon Rozenbeek beim Journalismusfestival in Perugia 2024
Menschen auf Propaganda vorbereiten: Sicherheitsforscher Jon Rozenbeek beim Journalismusfestival in Perugia.
Philipp Wohltmann

STANDARD: Die Welt geht in diesem Jahr wählen. Auch in Österreich stehen bald die Wahlen zum Europaparlament an. In vergangenen Wahlkämpfen hat Russland sich immer wieder eingemischt. Müssen wir vor der Europawahl wieder mit mehr Desinformation rechnen?

Ja. Die russische Propaganda stürzt sich auf alle Themen, die die Gesellschaft spalten, und versucht, diese Spaltung zu verstärken. Was auch immer gesellschaftlich diskutiert wird, die Propaganda wird sich darauf stürzen.

Gerade konzentriert sie sich aber stark auf den Krieg gegen die Ukraine. Erstens: Es lohne sich nicht, die Ukraine zu unterstützen. Zweitens: Putin wolle wirklich nur die Ukraine, er kümmere sich um den Rest nicht. Drittens: Die Unterstützung der Ukraine bringe nichts. Viertens: Die Ukraine verliere den Krieg. Fünftens: Russland sei unbesiegbar.

STANDARD: Welche Rolle spielen dabei rechtspopulistische Parteien, Politiker und Medien?

Europäische Parteien, die Russland unterstützen, sind aktuell fast immer rechtspopulistisch. Der Umkehrschluss, dass eine rechtspopulistische Partei pro-russisch sein muss, stimmt aber nicht.

Russland versucht, sich als Verteidiger traditioneller Werte zu inszenieren, was sich oft mit rechtspopulistischen Ideen überschneidet, zum Beispiel in ihrer Anti-LGBT-Rhetorik.

Was man in vielen westeuropäischen Ländern beobachten kann, ist, dass die russische Propaganda versucht, Unterstützung für die Kandidaten zu gewinnen, die grundsätzlich Gegenmeinungen äußern. Aber letzten Endes ist das alles Opportunismus. Russland hat keine Ideologie.

STANDARD: Sie forschen insbesondere zu der Wirkung von Propaganda und Desinformation und wie sich Individuen und Gesellschaften davor schützen können. Ein Konzept ist die Inokulationstheorie, also die psychologische Impfung. Was ist der Unterschied zwischen psychologischer Impfung und Manipulation?

Diese Impfungen sollen Manipulationen verhindern. Es ist nicht so einfach, Menschen auszutricksen, wenn man kein Zauberer mit einem tollen Kartentrick ist.

STANDARD: Was besagt die Inokulationstheorie?

Ein medizinischer Impfstoff ist eine abgeschwächte Dosis eines bestimmten Krankheitserregers. Wenn man dem Körper diese Dosis zuführt, denkt er, er sei krank und beginnt, Antikörper zu produzieren. Wenn man eine echte Infektion bekommt, wird man weniger krank. Ein einfaches Prinzip, das sehr gut funktioniert. Die Idee hinter der Inokulationstheorie ist, dass man dasselbe Prinzip im Gehirn anwenden könnte.

Es geht darum, die Menschen präventiv zu warnen, dass sie durch Desinformation in die Irre geführt werden könnten und präventiv zu widerlegen, was sie in die Irre führen könnte. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Irre geführt werden, verringert.

STANDARD: Und das funktioniert?

Das Problem ist, dass man nicht vorhersagen kann, mit welcher konkreten Desinformationen Menschen konfrontiert werden. Daher konzentrieren wir uns nicht auf einzelne Beispiele von Desinformation, sondern auf die zugrunde liegenden rhetorischen Strategien und Techniken, die eingesetzt werden. Das können verschwörungstheoretische Argumente sein oder gefälschte Accounts, Bot-Aktivitäten oder logische Irrtümer.

Die Idee hinter der modernen Impftheorie ist also, eine psychische Resilienz gegen diese Art von Beeinflussungstechniken und -strategien aufzubauen.

STANDARD: Was können wir in diesem Wahljahr denn konkret tun, um uns vor Desinformation zu schützen?

Da muss man zwischen individuellen und systemischen Interventionen unterschieden. Individuelle Interventionen durch Information oder Computerspiele sind nett. Sie schaden nicht und helfen ein wenig. Aber man sollte sie nicht überschätzen.

STANDARD: Und die systemischen Interventionen?

Bei systemischen Interventionen steht nicht der Einzelne, sondern unsere Informationsumwelt im Fokus. Wenn Facebook seinen Empfehlungsalgorithmus ändert, ist das eine systemische Intervention. Auf der einen Seite kann so eine Intervention die Menge der Desinformation stark reduzieren. Die Kehrseite ist aber, dass auch die Risiken weitaus größer sind: Wenn Facebook entscheidet, was die Leute sehen dürfen und was nicht, dann ist das eine Einmischung, die viele Menschen nicht wollen.

STANDARD: Und dadurch auch Vertrauen in das komplette System verlieren?

Genau. Seit einiger Zeit forschen wir daran, inwiefern Desinformation diesen Vertrauensverlust befördert. Covid und andere Dinge haben dazu beigetragen, dass viele Menschen wenig Vertrauen in politische Systeme, die Medizin, die Wissenschaft oder den Journalismus haben.

Leider ist gibt es keine klare Antwort darauf, wie man verlässlich Vertrauen aufbaut, und auch nicht, wie man dieses Vertrauen widerstandsfähig macht. Es ist sehr schwer, Vertrauen zu gewinnen und sehr leicht, es zu verlieren. Es gibt es im niederländischen ein Sprichwort: Vertrauen kommt zu Fuß und geht zu Pferd. (Philipp Wohltmann, 21.4.2024)