Jeden Freitagnachmittag läuft auf dem englischsprachigen Kanal des französischen Senders France 24 eine Sendung, die ausschließlich feministische Themen aufgreift. Annette Young, eine australische Journalistin und ehemalige Nahost-Korrespondentin, moderiert "The 51 Percent". Die Sendung wurde vergangenen Dezember zehn Jahre alt.

Immer häufiger geht es auch um die Rolle von Frauen in Kriegs- und Konfliktregionen wie in Gaza oder der Ukraine. Beim internationalen Journalismusfestival (IJF) in Perugia lud Young eine Journalistin und zwei Friedensaktivistinnen ein, um über mehr weibliche Stimmen in der Kriegsberichterstattung zu sprechen. Im Interview erzählt Young, warum Frauen am Verhandlungstisch entscheidend sind und was "The 51 Percent" so besonders macht.

Annette Young im Studio der feministischen Nachrichtenshow
Annette Young im Studio der feministischen Nachrichtenshow "The 51 Percent" auf France 24.
France 24 The 51 Percent Screenshot

"Frauen, die die Welt verändern"

STANDARD: Sie moderieren die weltweit einzige Sendung, die ausschließlich von feministischen Perspektiven berichtet. Wie kamen sie vor über zehn Jahren zu der Überzeugung, dass es "The 51 Percent" braucht?

Young: Zu dem Zeitpunkt war ich für France 24 als Nahost-Korrespondentin tätig. Ich war zwar schon immer Feministin, habe mich aber besser mit palästinensischen Fraktionen ausgekannt als mit Frauenrechten. Als mir "The 51 Percent" angeboten wurde, habe ich mich zunächst eine Woche mit potenziellen Themen auseinandergesetzt und war beschämt. Denn da gab es so viele starke Geschichten, die nicht die Berichterstattung bekommen haben, die sie verdient hätten. Da wusste ich, dass ich dieses Programm machen muss.

STANDARD: Warum, glauben Sie, ist bisher kein anderer Fernsehsender nachgezogen?

Young: Als wir gestartet haben, haben wir angenommen, dass bald auch andere Programme diese Themen aufgreifen. Dem war ich nicht so. Ich glaube, dass es vielen so geht wie mir zu Beginn. Man muss kurz innehalten und über die Idee nachdenken. Nicht nur Männer, auch Frauen haben so viele Vorurteile über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft internalisiert. Wir sind an diesen Status quo gewöhnt. Aber wie der Name der Show sagt: Wir sind 51 Prozent. Wir sind keine Minderheit. Und wenn man es nicht schafft, 51 Prozent abzuholen, dann wird man es auch nicht bei anderen Communitys schaffen.

STANDARD: Besteht aber nicht auch die Gefahr, die anderen 49 Prozent zu vergraulen?

Young: Ich bin an erster Stelle Journalistin. Mein Job ist es, ein kritisches Auge auf Themen zu werfen. Aber als TV-Journalistin ist es auch mein Job, den Inhalt relevant und unterhaltsam für mein Publikum zu gestalten, unabhängig vom Geschlecht. Alles, was ich will, ist, den Zuseher oder die Zuseherin mit etwas zu überraschen, das sie noch nicht wussten, unabhängig von ihrem Hintergrund. Wenn ich sie zum Nachdenken und zum Hinterfragen anregen kann, habe ich meinen Job getan.

STANDARD: Wie setzt sich Ihr Publikum tatsächlich zusammen?

Young: Nachdem wir ein internationaler und öffentlicher Sender sind, ist es sehr schwer, Metriken über unser Publikum zu bekommen. Natürlich wird unsere Sendung viel von Frauen geschaut. Aber auf Social Media sehen wir, dass wir zum Beispiel auch sehr beliebt bei jungen Männern in Afrika sind.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Young: Nein, wir verstehen es nicht wirklich. Wir sind auch sehr beliebt bei älteren Frauen in Großbritannien, den USA und Australien, in Indien sprechen wir aber dafür eher jüngere Frauen an. Unser Publikum ist alles andere als homogen und viel diverser, als man vielleicht denkt.

STANDARD: Wann ist eine Geschichte für "The 51 Percent" relevant?

Young: Die Welt ist unser Zuhause, das ist der Vorteil der Show. Und wenn man 51 Prozent der Bevölkerung abdecken will, gibt es eine Menge Geschichten. Ich suche als Journalistin immer nach dem Aha-Moment.

STANDARD: Was war so ein Aha-Moment?

Young: Für viel Interesse hat die globale Studie gesorgt, die das Auseinanderdriften zwischen Männern und Frauen unter 30 gezeigt hat. Junge Männer sind immer unzufriedener, eher politisch konservativ, halten oft nicht viel von Feminismus und sind eher gegen Migration. Während Frauen progressiver denken und weltoffener sind. Dieser Trend ist sehr beunruhigend. In Deutschland versuchen Rechtsextreme, genau diese jungen Männer anzusprechen. Männer, die das Gefühl haben, dass Forderungen nach mehr Gleichberechtigung ihre Interessen verletzen.

STANDARD: Sie sagen, dass Sie von überall auf der Welt berichten. Wo gibt es derzeit die größten Eingriffe in die Rechte von Frauen?

Young: Das Traurige ist, dass wir das überall sehen. In einem Jahrzehnt "The 51 Percent" gab es einen globalen Pushback gegen die Rechte von Frauen. Man muss sich nur die USA ansehen und was dort mit reproduktiven Rechten passiert. Im Englischen gibt es den Ausdruck vom Kanarienvogel in der Kohlemine. Das bezieht sich auf die Praxis von Kohlearbeitern im 19. Jahrhundert, die einen Kanarienvogel in die Mine fallen ließen, um zu schauen, ob es dort genug Sauerstoff zum Atmen gibt. Frauenrechte sind wie dieser Kanarienvogel in der Mine. Wenn ein Land, besonders so ein reiches Land wie die USA, versucht, Frauenrechte zu ersticken, hat das einen enormen Einfluss auf andere Länder weltweit.

STANDARD: Gibt es besondere Hotspots?

Young: Es passiert gerade natürlich sehr viel in Gaza, dem Iran und Afghanistan. In den Vereinten Nationen diskutiert man zum Beispiel gerade darüber, ob man die Beziehungen zu den Taliban normalisieren soll. Für Feministinnen und Feministen ist das eine rote Linie.

STANDARD: Sie waren sieben Jahre lang Korrespondentin im Nahen Osten. Wie wichtig ist es für Sie in Ihrer heutigen Rolle, gerade Frauen aus dieser Region eine Plattform zu geben?

Young: Das war mir sehr wichtig, und das habe ich auch hier beim Journalismusfestival in Perugia getan.

STANDARD: In dem von Ihnen moderierten Panel saßen eine israelische und eine palästinensische Friedensaktivistin an einem Tisch.

Young: Ja, für viele ein Schock, dass das in diesen Zeiten überhaupt möglich ist. Als ehemalige Korrespondentin wusste ich wenige Wochen nach dem 7. Oktober 2023, dass die Stimmen jener Menschen, die vor Ort alles dafür tun, Frieden herzustellen, übertönt werden. Das gilt besonders für weibliche Stimmen. Ich habe zwei faszinierende Frauen, eine Palästinenserin und eine Israelin, gefragt, ob sie in meine Sendung kommen. Diese Ausgabe habe ich jetzt hier live wiederholt, und es gab sehr viel positives Feedback und auch viel Diskussionsbedarf.

STANDARD: Das Gespräch über die Zukunft der Region war ein sehr ehrliches und respektvolles. Welche Rolle spielt es, dass beide Aktivistinnen weiblich sind?

Young: Friedensbemühungen sind entscheidend, aber sie sind nur erfolgreich, wenn sie eine feministische Perspektive beinhalten, die Frieden und Sicherheit für Frauen garantiert. Frauen bringen nämlich ein ganz anderes Verständnis mit. Ein Beispiel sind die Friedensgespräche in Liberia im Jahr 2003. Es ging in den Friedensverhandlungen unter anderem um Grenzen und einen Fluss, den beide Seite kontrollieren wollten. Als Frauen an den Verhandlungstisch geholt wurden, sagten sie, dass der Fluss schon seit über 50 Jahren ausgetrocknet ist. Die Männer hatten keine Ahnung davon, weil es immer die Frauen waren, die das Wasser holen gingen.

STANDARD: Oft fragen Sie Ihre Gäste, ob sie glauben, es gäbe genauso viele Konflikte, wenn es mehr Frauen in politischen Entscheidungsfunktionen gäbe. Was ist Ihre Antwort?

Young: Ja, ich frage sehr oft, ob es dieses Ausmaß an Kriegstreiberei gäbe. Die Wahrheit ist, dass wir es nicht wissen, weil wir noch nie in der Situation waren, dass die Mehrheit der Personen in Machtpositionen Frauen waren. Aber ich persönlich nehme sehr stark an, dass es anders wäre. Ich denke, die Entscheidungen wären durchdachter. Es gäbe auch ein besseres Verständnis davon, wie diese Entscheidungen vulnerable Gruppe beeinflussen. Und es gäbe vermutlich auch mehr Empathie.

STANDARD: Wie wir aber beispielsweise auch hier in Italien sehen, ist eine Frau in der Führungsrolle noch keine Garantie für mehr feministische Perspektiven …

Young: Es gibt keine Garantie. Auch in Frankreich könnte demnächst zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau zur Präsidentin gewählt werden, Marine Le Pen. Eine Politikerin der rechtsextremen Partei, die für konservative Rollenbilder eintritt. Aber trotzdem steht fest: Wir haben nicht genug Frauen. Punkt. Und das muss sich ändern.

STANDARD: Laden Sie auch Männer in Ihre Sendung ein?

Young: Natürlich haben wir auch männliche Gäste. Wir versuchen, überall, wo es möglich und sinnvoll ist, Männer zu interviewen. Ich würde auch gerne mehr von ihnen in der Sendung haben, aber oft ist das Problem, dass ihren Worten keine Taten folgen.

STANDARD: Bei Ihrem Panel in Perugia hat die palästinensische Friedensaktivistin Nivine Sandouka von einer "dritten Stimme" in diesem Konflikt gesprochen. Ist diese Stimme weiblich?

Young: Nein! Es gibt diese Stimme unabhängig vom Geschlecht. Dieser Krieg ist extrem polarisierend, und gerade wenn man nicht viel über die Region weiß, ist es sehr leicht, nur eine Seite zu akzeptieren. Wenn man aber Erfahrungen mit den Communitys gemacht hat, versteht man auch, was dieses dritte Narrativ sein soll: pro Frieden, pro Humanität und pro Verhandlungen. Das ist absolut entscheidend.

STANDARD: Wie hat sich Ihre Arbeit als Journalistin in den letzten zehn Jahren verändert?

Young: Das letzte Jahrzehnt war die schönste Zeit in meinem persönlichen und beruflichen Leben.

STANDARD: Weil Sie so viele inspirierende Frauen kennengelernt haben?

Young: Nicht nur Frauen, auch Männer. Und nichtbinäre Personen! Zum Beispiel Dr. Finn Mackay, ein britischer Soziologe und Gender-Aktivist. Wir beobachten ja auch einen gefährlichen wachsenden Konflikt zwischen Feminismus und Transgender.

STANDARD: Gibt es eine besondere Geschichte von zehn Jahren "The 51 Percent", die Sie nie vergessen werden?

Young: Davon gibt es sehr viele. Die berührendste Begegnung in den letzten 18 Monaten hatte ich aber mit einer verheirateten Frau und Mutter von drei Kindern im US-amerikanischen Kentucky. Wir waren dort, um über die Entwicklungen der Abtreibungsrechte im Vorfeld der US-Zwischenwahlen zu berichten. Die Frau hat uns erzählt, dass sie kurz nach der Aufhebung des Roe-v.-Wade-Urteils vergewaltigt wurde. Jemand hatte sie auf einer Party unter Drogen gesetzt. Wäre sie nicht in die Notaufnahme gefahren, wo man ihr mit einem Notfallverhütungsmittel geholfen hat, wäre sie mit dem Kind ihres Vergewaltigers schwanger gewesen, als die letzte Abtreibungsklinik in Kentucky geschlossen wurde. Sie hat öffentlich darüber gesprochen, weil es ihr wichtig war, die Menschen dazu zu bewegen, zweimal über das Abtreibungsverbot nachzudenken.

STANDARD: Wie geht es nun weiter, was sind Ihre Pläne für die nächsten zehn Jahre?

Young: Zunächst geht es nach Mexiko-Stadt für eine Sonderberichterstattung über das erste Mal, dass die beiden führenden Präsidentschaftskandidatinnen Frauen sind. Ein Schwerpunkt werden dieses Jahr auch die Olympischen Spiele, die behaupten, die geschlechtergerechtesten Spiele bisher zu werden. Wir müssen natürlich kritisch hinterfragen, ob das stimmt. Und langfristig will ich einfach weitermachen, was ich tue. Diese Arbeit gibt mir so viel zurück. (Andrea Gutschi, 27.4.2024)