Licht und Schatten waren an diesem frühlingshaften Sonntagvormittag an der Wiener Ringstraße eng beieinander. Vor den Toren des Burgtheaters strahlte der Sonne nach zwei Wochen Novemberwetter endlich in voller Pracht. Drinnen hingegen machte sich auf der Bühne drückende Herbststimmung breit: Ein prominentes Quartett gab dort nämlich Prognosen zur US-Präsidentschaftswahl am 5. November und mögliche Auswirkungen auf Europa ab.

Die Diskussionsrunde zur US-Wahl: Politikberater Mark Medish, Diplomatin Eva Nowotny, Moderator und IWM-Rektor Misha Glenny, Historikerin Marlène Laruelle, Ex-Botschafter Kim Darroch (v. li.).
Regine Hendrich

"Biden oder Trump?" – so lautete die Frage bei "Europa im Diskurs", veranstaltet vom Burgtheater gemeinsam mit dem STANDARD, der Erste-Stiftung und dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Schon zu Beginn wurde klar: Allzu viel Optimismus durfte das Publikum diesmal nicht mit nach Hause nehmen.

Soziale Unzufriedenheit

Haben die USA Schnupfen, fängt Europa sich eine Erkältung ein, zitierte der Washingtoner Politikberater Mark Medish zum Einstand ein altbekanntes Diktum. "Aber was, wenn Amerika Long Covid hat?", spielte er auf den Umsturzversuch von Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump am 6. Jänner 2021 an. Ob der Aufstand eine Ausnahme in der Geschichte der USA war oder aber eine Art Probe für noch vehementere Versuche, die US-Demokratie zu zerstören, sei ungewiss. "Aber allein, dass wir uns die Frage stellen, zeigt, wie unsicher die Zeiten sind." Am Ende, schätzt Medish, werde angesichts der zuletzt so knappen Mehrheiten die Wahlbeteiligung darüber entscheiden, wer Präsident wird. Zugleich ortet er in den USA aber auch ein Maß an sozialer Unzufriedenheit, "die an die 1960er-Jahre erinnert".

Fröhlich war man im Burgtheater nur zwischendurch: Eva Nowotny, Misha Glenny.
Regine Hendrich

Falls sich Trump am Ende doch durchsetzen sollte, dürfe man sich in Europa jedenfalls keinen Illusionen hingeben, was etwa den Schutz der europäischen Nato-Länder vor der russischen Bedrohung betrifft, warnt Medish – nicht ohne Sarkasmus: "Trump meint, was er sagt. Er weiß nur manchmal nicht, was das bedeutet."

Weit besser vorbereitet

Für die Ukraine und Europa verhieße ein möglicher Sieg Trumps jedenfalls nichts Gutes, ist auch Kim Darroch überzeugt. Großbritanniens ehemaliger Botschafter in den USA lernte Trumps aggressiven Stil 2019 am eigenen Leib kennen. Nachdem interne Nachrichten öffentlich geworden waren, in denen er den US-Präsidenten unter anderem als "dysfunktional und unbeholfen" kritisiert hatte, beschimpfte ihn Trump in Tweets als "sehr dummen Typen" und "aufgeblasenen Dummkopf".

Darroch wählt auf der Bühne der Wiener Burg elegantere Worte für seine gleichwohl pessimistischen Einschätzungen: Stellt der Isolationist Trump die US-Waffenhilfen an Kiew ein, müsse Europa einspringen – aus eigenem Interesse: "Es wäre eine riesige strategische Niederlage, wenn Russland gewinnt."

Diskussion mit Publikumsbeteiligung: Marlène Laruelle, Kim Darroch
Regine Hendrich

Für Eva Nowotny, lange Jahre österreichische Botschafterin in Paris, London und Washington, steht fest, dass der Republikaner diesmal weit besser auf die Machtübernahme vorbereitet ist als 2016. Europa müsse nun dringend nachziehen, was die Vorkehrungen für eine mögliche zweite Amtszeit Trumps angeht: "Damals war Europa zum ersten Mal mit einem US-Präsidenten konfrontiert, der die EU als Feind bezeichnete", erinnert sich die Diplomatin. "Ich glaube aber fest daran, dass – egal, was passiert – es im Interesse der EU ist, weiter gute Beziehungen zu den USA zu haben, auch wenn es nicht einfach wird." Ein Trump-Sieg, der für Nowotny keineswegs ausgemachte Sache ist, könnte zudem "wie Sauerstoff für die populistischen, autoritären Bewegungen in ganz Europa sein".

EU muss wehrhaft werden

Auch die französische Historikerin Marlène Laruelle, die an der George Washington University in den USA sowie am IWM in Wien forscht, sieht Europa in der Pflicht: "Was immer im November passiert: Fest steht, dass die USA kein verlässlicher Partner für die europäische Sicherheit mehr sind." Die EU müsse daher endlich ihre eigene Waffenproduktion ankurbeln.

Sollte Trump im Falle eines Wahlsiegs versuchen, die Ukraine zu einem Deal mit Russland zu zwingen, würde das keinen Frieden bringen, fürchtet sie. "Europa muss sich aber spätestens dann von den USA unabhängig gemacht haben, was seine Verteidigung betrifft." (Florian Niederndorfer, 29.4.2024)