Ingrid Thulin
Ingrid Thulin (links) und Gunnel Lindblom als die Schwestern Ester und Anna in Ingmar Bergmans Filmdrama "Das Schweigen". Mit für die damalige Zeit expliziten Sexszenen sorgte der schwedische Meisterregisseur vor 60 Jahren auch in Österreich für viel Entrüstung – und volle Kinokassen.
imago/United Archives

Wer im April 1964 die Filmrubriken österreichischer Tageszeitungen aufschlug, fand dort ausnahmsweise keine Berichterstattung über den neuesten Peter-Alexander- oder Winnetou-Film vor. Stattdessen wurde in eindringlicher Rhetorik vor "schockierend deutlich abgefilmten Sexualakten", "optischen Exzessen, die die Grenzen des Darstellbaren weit überschreiten" oder gar vor einer "auf das Tierische reduzierte(n) ‚Liebe‘ in noch nie dagewesener Offenheit" gewarnt. Derart aufgeregte Kommentare waren in jenen Wochen keine Ausnahme, sondern die Regel. Was war geschehen? Die Statements – der Kronen Zeitung, der katholischen Filmschau und dem konservativen Volksblatt entnommen – besprachen den neuen Film Das Schweigen des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, der einen der größten Filmskandale der Nachkriegszeit auslöste, der angeschlagenen Kinobranche einen Kassenschlager einbrachte und den Weg hin zum modernen Sexfilm ebnete.

Sex mit Fremden

Im Kern drehte sich die Debatte um drei, in Summe wenige Minuten lange Sexszenen. In ihnen sah man weibliche Masturbation und das Liebesspiel zwischen Mann und Frau in unterschiedlichen Stellungen, alles in grobkörnigem Schwarz-Weiß. Wirklichen Genitalkontakt fing Bergmans Kameramann Sven Nykvist dabei nicht ein. Dennoch: Mit nackten Brüsten, lautem Gestöhne und zahlreichen Nah- und Großaufnahmen sprengte Bergman die Standards der Zeit und nahm das visuelle Repertoire des späteren Pornofilms vorweg. Eigentlich erzählt Das Schweigen die Geschichte der zwei Schwestern Ester und Anna, die während einer Zugreise durch Europa in einem alten Grandhotel in einem fiktiven osteuropäischen Land absteigen. Die Beziehung zwischen den Geschwistern ist zerrüttet. Unfähig zu kommunizieren, streiten sie miteinander oder schweigen sich an. Ester, gesundheitlich schwer angeschlagen, verbringt die Tage im Bett, wo sie sich mit Zigaretten und Alkohol von einer nicht näher erläuterten Krankheit abzulenken sucht. Anna lässt sich hingegen durch die Stadt treiben und hat Sex mit Fremden. Annas Sohn Johan freundet sich währenddessen mit den wenigen Besuchern des Hotels an.

Wie schon in anderen Filmen arbeitete sich Bergman auch im Schweigen an der Frage ab, was eine säkularisierte und somit gottlos gewordene Welt mit den Menschen mache. Einer Versuchsanordnung gleich seziert er anhand seiner Figuren die Conditio humana des modernen Menschen, der sich in einer entzauberten Welt zurechtfinden muss – und im Sex die Absolution sucht. Die Kombination aus gnadenlosem Existenzialismus und für die Sehgewohnheiten der 1960er-Jahre unerhört expliziten Sexszenen ließ den Film in praktisch allen Ländern, wo er gezeigt wurde, zum Skandalfilm avancieren, der Feuilletonisten Stoff für unzählige Artikel lieferte, Moralhütern jedoch Sorgenfalten auf die Stirn trieb. So auch in Österreich.

Ruf des Skandalösen

Als der Film am 24. April 1964 seine Österreich-Premiere feierte, eilte ihm der Ruf des Skandalösen schon voraus. In der Bundesrepublik Deutschland war Das Schweigen wegen angeblich pornografischer Qualitäten bereits hundertfach angezeigt worden, CDU-Politiker forderten im Bundestag offen die Zensur. In Österreich brachte der Filmimporteur Union Filmdank geschickter Intervention bei den Behörden den Film fast ungeschnitten in die Kinos. Nur sieben Sekunden fehlten der Originalfassung. Außerdem erhöhte man das Alterslimit von ursprünglich 16 auf 18 Jahre, um sich in puncto Jugendschutz nicht angreifbar zu machen. Das österreichische Publikum konnte die drei minutenlangen Sexszenen also praktisch in voller Länge bestaunen. Damit befand es sich in exklusiver Gesellschaft. Außer in Schweden, Dänemark und der BRD lief der Film in allen anderen europäischen Ländern nur geschnitten. Teilweise wurden die Sexszenen fast vollständig entfernt.

Wettern gegen "Schmutz und Schund"

Dennoch stand Das Schweigen in der Alpenrepublik von Anfang an unter Pornografie-Verdacht. Getragen wurde die Kritik vor allem von konservativen und katholischen Kreisen. Diese hatten bereits in der Nachkriegszeit gegen "Schmutz und Schund" gewettert. Gemeint waren damit minderwertige Medien, von Gangsterfilmen über Comics bis hin zu erotischen Geschichten, denen man die Verrohung der Jugend und die Gefährdung von Österreichs Status als Kulturnation vorwarf. Bei derart expliziten Sexszenen, wie sie der schwedische Filmschocker darbot, formierte sich auch jetzt rasch der Widerstand. Getragen wurde dieser allen voran von der katholischen Wiener Kirchenzeitung und ihrem Filmkritiker Richard Emele. In einem mit "Wir schweigen nicht mehr länger!" betitelten Beitrag argumentierte Emele, der Skandal wären nicht die expliziten Szenen per se, obgleich diese die Grenzen der Sittlichkeit weit überschritten hätten. Das größere Problem sei, "welchen Entartungen durch das schlechte Beispiel eines international anerkannten Künstlers nun Tür und Tor geöffnet sein wird". Bergmans "hemmungsloser Einbruch in weitere Schichten der menschlichen Intimsphäre" hätte nämlich "den wahren Pornographen den Weg geebnet", so Emele.

Die konservative Kritik verlangte die Absetzung des Films und schoss sich auf die schwächelnde österreichische Filmwirtschaft ein. Durch das neue Medium Fernsehen in Bedrängnis geraten, setze diese jetzt bewusst auf Sex, um Leute ins Kino zu locken, so der katholische Vorwurf. In der Tat spülte der Film gutes Geld in die Kassen der Kinobetreiber: Nach zwanzigwöchiger Laufzeit hatten 150.000 Menschen den Film gesehen, in der damaligen Situation ein Rekord.

Dabei war der Film anfangs auch innerhalb der Branche umstritten. Vor dem Kinostart wurde im Fachblatt Österreichische Film und Kino Zeitung darüber gestritten, ob man auf der aus dem hohen Norden kommenden Sexwelle wirklich mitreiten solle. Diese "verbilde" das Publikum, so eine Befürchtung mancher Skeptiker, die Menschen wollten dann nur noch "solche Sachen" sehen – manch ein Kommentator traute sich die Bergman’schen Sexszenen nicht einmal beim Namen nennen.

Freiwillige Selbstkontrolle gefordert

Noch Monate nach der Premiere war vielen Das Schweigen nicht geheuer. So forderte der damalige Viennale-Direktor Sigmund Kennedy etwa die Einführung einer freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, um weitere Entgleisungen in puncto Nacktheit und Sexualität zu verhindern. Durchsetzen konnte er sich mit dieser Forderung aber nicht.

Im konservativ regierten Tirol, wo die katholische Kirche stets Einfluss auf die regierende ÖVP hatte, konnten die Kritiker einen Erfolg verbuchen. Auf Basis des tirolerischen Lichtspielgesetzes wurde Das Schweigen verboten. Auch in der Steiermark veranlasste die Landesregierung, dass Teile des Films geschnitten werden mussten. Das steirische Verbot wurde später in der ORF-Sendung Stadtgespräche diskutiert. Moderiert von Helmut Zilk stilisierten sich die Vertreter der Filmwirtschaft zu Vorkämpfern für Meinungsfreiheit, der Filmkritiker Richard Emele warnte hingegen vor einer Verrohung der Jugend. Einig war man sich nur darin, dass Österreichs föderale Struktur effizienten Jugendschutz eher behindere als befördere.

Unumstrittene Qualität

Im Kontext der anschwellenden sexuellen Revolution, die Ende der 1960er-Jahre ihren Höhepunkt erreichen sollte, war die visuelle Aufmachung des Schweigens geradezu bahnbrechend. In diesem Punkt sollte die katholische Kritik auch Recht behalten: Der Film beeinflusste spätere Pornografen tatsächlich, die sich von Bergmans Bildsprache inspirieren ließen, wie die schwedische Filmwissenschafterin Mariah Larsson nachweisen konnte.

Für ein heutiges Publikum dürften die Sexszenen jedoch harmlos anmuten. Derart aufgeregte Schlagzeilen wie im April 1964 könnte der Film sicherlich nicht mehr hervorrufen. Seine Qualitäten, auch abseits der Sexszenen, sind aber unumstritten. Der sechzigste Jahrestag des Skandals wäre jedenfalls ein guter Anlass, sich davon wieder zu überzeugen. (Paul M. Horntrich, 27.4.2024)